„Wir jungen, starken Futuristen“

Der Futurismus ist einer der groß angelegten Versuche, die Wahrnehmung des Menschen von Grund auf durch eine künstlerisch-kulturelle Bewegung zu erneuern. Zugleich war der Futurismus von Beginn an eine politische Bewegung, die das industriell rückständige Italien modernisieren und zu alter römischer Größe verhelfen wollte. Jegliche Traditionen und Überlieferungen sollten den Weg frei machen für eine sich im Rausch befindende Weltanschauung, die eine technisierte Vision der Zukunft verkörperte.

Unumstrittene Initialzündung der Bewegung ist das „Manifest des Futurismus“ von Filippo Tommaso Marinetti (1876 – 1944) aus dem Jahr 1909. Alle Grundgedanken, die den Futurismus ausmachen, wurden in den elf Thesen Marinettis gebündelt. Die Künstler, Dichter, Ingenieure und Musiker, die sich zu futuristischen Gruppen zusammenschlossen, berufen sich auf diese rudimentäre theoretische Grundlage und arbeiteten an einem ganzheitlichen Ansatz zur gesellschaftlichen Veränderung. Folglich war der Futurismus von Anfang an mehr als ein Kunstphänomen; der Anspruch einer neuen, ästhetischen Theorie, sowie die Konstruktion eines neuen Menschen weitete sich auf alle gesellschaftlichen Teilbereiche aus.

Marinetti war im Wahn der Geschwindigkeit, er war vom Willen besessen, alles Beständige zu liquidieren und in den Fluss der Bewegung hineinzugeben, um dadurch schließlich die Lähmung und den Stillstand der Kultur zu überwinden. Als reinigendes Gewitter sollten die Urelemente des menschlichen Lebens aufs neue entfesselt werden. Die rhetorische Aggressivität, mit der Marinetti gegen das bürgerliche Zeitalter Stellung bezieht, ist in ihrer Schärfe kaum zu übertreffen, denn Italiens alter Kultur wurde der bedingungslose Krieg erklärt: alles sollte vom zweckmäßigen und bürgerlichen Denken befreit werden.

„Wir wollen alle nur denkbaren Museen, Bibliotheken und Akademien zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und gegen jede Feigheit kämpfen, die auf Zweckmäßigkeit und Eigennutzen beruht.“

Marinettis Thesen wurden weniger in einer Sprache der Befreiung als eher von einem losgelösten Standpunkt aus artikuliert, der die Möglichkeiten der Zukunft und des Ungewissen anpries. Das Neue wurde in jeglicher Hinsicht dem Alten vorgezogen. Das Alte war geschichtlich widerlegt und zur Zerstörung freigegeben. So spielt der historische Rahmen, in dem der Futurismus entstand, eine immens wichtige Rolle. Norditalien und speziell Mailand, die Wirkungsstätte Marinettis, standen am stärksten unter dem Eindruck der Industrialisierung. Besonders beeindruckt zeigt sich Marinetti von der Kraft der Maschinen, denn die „Energie der Geschwindigkeit wird Raum und Zeit beherrschen“. Aber auch die mechanische Perfektion und das reibungslose funktionieren der Maschinen beeindruckten ihn und versprachen eine glorreiche Zukunft.

„Wir erklären, dass die Herrlichkeit der Welt um eine Schönheit bereichert worden ist: die Schönheit der Maschine.“

Trotz der Idealisierung der Technik und der Maschinen klagte Marinetti die Abhängigkeit des Volkes von Fabrikanten an. Für ihn war nicht die Unterwerfung des Menschen unter die Maschinen und deren Produktionsweise der Schlüssel für die Zukunft, sondern die Verschmelzung vom Mensch und Maschine. In diesem symbiotischen Prozess versklaven Maschine und Technik jedoch nicht den Menschen, sondern ermöglichen es ihm, ein neues Bewusstsein herauszubilden, das durch freie Intuition geleitet werden soll. Überhaupt ist die Entfesslung der Intuition des Menschen ein Kerngedanke des Futurismus, der das schöpferische Element im Menschen durch die Zerstörung der verstaubten und als anachronistisch wahrgenommenen Kultur wieder hervorbringt.

„Durch die Intuition werden wir die scheinbare unüberwindliche Feindschaft besiegen, die unser menschliches Fleisch vom Metall der Motoren scheidet.“

Im Angesicht der neuen, titanischen Kraft der Maschinen hatte auch die christliche Moral endgültig ihre Daseinsberechtigung verloren und mit ihr eine veraltete, an falsche Werte gebundene Gesellschaft, denn sie war verwoben mit einer Kultur der Langsamkeit, Passivität und Rückständigkeit. Die Geschwindigkeit hingegen sollte eine futuristische Moral begründen, die den Menschen vor Stagnation und Routine bewahrt. Die Geschwindigkeit entfesselte einen Gestaltungswillen, der alle Hindernisse hinwegfegen sollte. Werte und Überzeugungen des bürgerlichen Zeitalters waren überholt, der Mensch war gezwungen, sich den neuen Möglichkeiten anzupassen. Marinetti wollte diese Überzeugung in das Herz des italienischen Bewusstseins tragen, das durch eine plötzliche Erregung die alte Gedankenwelt aufsprengen musste.

Auch auf politischer Ebene galt es, das alte parlamentarische System zu bekämpfen, das gefangen schien zwischen Korruption und Banalität. Eine kulturelle Erneuerung musste eben auch das politische System erfassen und aus dem Gewahrsam einer „illusorischen Beteiligung von der Mehrheit an der Regierung“ herauslösen. Überhaupt war der Parlamentarismus für Marinetti das Sinnbild einer kranken, blutleeren und alternden Gesellschaft, denn absolute Gewalt lag in den Händen von „Kleingeistigen, die nicht in der Lage sind über alltägliches hinaus zu denken.“

Die Idee sollte stets Vorrang vor dem Individuum haben und dieses sich bedingungslos unterordnen. Geld als Korruptionsmittel sowie die „geschwätzige Beredsamkeit“ waren unwiderruflich mit dem alten System verbunden und somit bewusst der Sogwirkung des Flusses der Geschwindigkeit auszusetzen. In diesem Zusammenhang vertrat Marinetti auch die Kongruenz von Futurismus und Faschismus, die allerdings nicht von allen Protagonisten geteilt wurde.

„Unser aufrichtiger Optimismus wendet sich bedingungslos gegen den Pessimismus. Mit dem Revolver werden wir fröhlichen Herzens auf den großen romantischen Mondschein zielen.“

In den gesammelten futuristischen Manifesten von Marinetti wird klar, dass der Mensch des Futurismus in jeglicher Hinsicht der neue Mensch ist, der einen neuen Lebensstil und eine neue Weltsicht verbreitet. Der Mensch soll selbstbewusster Teil einer schnell wandelbaren Welt werden. Um ein bestimmender Faktor in dieser Welt zu sein, gilt es jedoch, den Menschen von etwaigen kulturellen Hemmungsmechanismen und tradierten Lebensweisen zu befreien. Der Futurismus erscheint dabei in der Retrospektive als überaus modernes und progressives Phänomen, das aber zugleich auch das Ausmaß einer allgegenwärtigen Entfremdung der Lebensweisen verkörpert. Ferner beklagt der Futurismus nicht die unausweichliche Unterwerfung des Menschen unter die Maschinen, sondern sucht nach Möglichkeiten, den Menschen in diesem Prozess einzubinden als bestimmenden Faktor festzulegen. Hier liegt möglicherweise eine erfrischend andere Perspektive vor, weil anerkannt wird, dass der Prozess der allumfassenden Technisierung quasi unumkehrbar ist. Anstatt sich in einen romantisierenden Konservatismus zu flüchten, affirmierten die Futuristen ebenjene Entwicklungen und trieben sie auf künstlerischer Ebene mit jugendlichem und wahnwitzigem Esprit auf die Spitze.

Auch wenn der Futurismus letztlich an seinem eigenen Anspruch scheitern musste, so war auch die später einsetzende Rebellion gegen die totale Mechanisierung des Menschen vorhersehbar. Nichtsdestoweniger bleibt festzustellen, dass eine kulturelle Bewegung großen und grundlegenden Einfluss auf eine ganze Gesellschaft haben kann und letzlich in der Lage ist, zumindest punktuell für eine Bewusstseinsänderung zu sorgen.

Literatur:

Filippo Tommaso Marinetti, Manifeste des Futurismus, Berlin 2018.

(Diese jüngst beim Berliner Verlag Matthes & Seitz erschienene Sammlung der Manifeste von Marinetti beinhaltet auch erstmalig auf deutsch übersetzte Schriften)

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