Verschüttete Stimmen (I): Christian Wagner

Auch abseits ausgetretener Pfade, die zu Monumenten führen, findet man manch schöne Blume – manchmal sogar verwachsene Marmorbilder und von der Zeit verschüttete Giganten. Die Reihe „Verschütte Stimmen“ regt an, verkannte und zu Unrecht vergessene Dichter zu entdecken und auszugraben. Die kurzen Hinführungen und die einzelnen Gedichte sind gedacht als Wegweiser zu diesen Dichtern.

Seit es Gedichte gibt, kennt das Publikum die Sehnsucht nach dem bukolischen Dichter, der aus der Schlichtheit seiner Natur heraus unverbildete Verse singt. Doch gerade in der neueren Zeit dominiert der poeta doctus, der Dandy, der an der großstädtischen Kultur partizipiert und Teil der „Literaturszene“ ist.

Christian Wagner (1835–1918) bildet hier eine Ausnahme. Er, der in dem schwäbischen Dorf Warmbronn zur Welt kam und ebendort auch starb, arbeitete als Kleinbauer und schrieb Verse in seiner freien Zeit. Sicher wäre es falsch, Wagners literarische Bildung zu unterschätzen; besonders sein schwäbischer Landsmann Schiller faszinierte ihn tief. Auch hat Wagner für sein Schaffen schon zu Lebzeiten durchaus Anerkennung, ja Bewunderung erfahren. Doch erhielt er keine höhere Schulbildung, ließ sich niemals einer literarischen Schule oder einer bestimmten „Richtung“ zuordnen und wurde nicht Teil des Literaturbetriebs. Er blieb ein Außenseiter. Jugendstil, Symbolismus, Expressionismus … all diese „Strömungen“ schienen an Christian Wagner vorbeizufließen wie an einem großen Riff.

Hermann Hesse gab schon 1913 einen Auswahlband mit Gedichten Wagners heraus. Auch in jüngerer Zeit gab es bekannte Fürsprecher wie Albrecht Goes und Peter Handke. Doch ist Wagner nie über den Status eines „Geheimtipps“ hinausgekommen. Vielleicht ist das auch gut so, denn er schrieb nicht für die Masse, sondern für die „happy few“, die seine eigensinnige und häufig eigenartige Dichtung zu würdigen verstanden. Wer sich darauf einlässt, der wird reich belohnt mit Ausblicken in eine ganze Welt mit eigener Mythologie und einer Sprache, die bis in Details der Rechtschreibung und Zeichensetzung den Stempel eines eigenständigen Geistes von großer Kraft trägt.

Es könnte sein, dass Wagner aufgrund der ökologischen Frage heute wieder an Bedeutung gewinnt, denn er trat für die Sakralität der Natur und für die „Schonung alles Lebendigen“ ein. Das hier ausgewählte Gedicht zeigt beispielhaft Wagners undogmatische Gläubigkeit, seine Naturliebe und Naturfrömmigkeit sowie seine Beschreibungskunst mithilfe verschiedenster Metaphern.

Ostersamstag

Wie die Frauen
Zions wohl dereinst beim matten Grauen
Jenes Trauertags beisammen standen,
Worte nicht mehr, nur noch Tränen fanden;

So noch heute,
Stehen als in ferne Zeit verstreute
Bleiche Zionstöchter, Anemonen,
In des Nordens winterlichen Zonen:

Vom Gewimmel
Dichter Flocken ist er trüb der Himmel;
Traurig stehen sie die Köpfchen hängend,
Und in Gruppen sich zusammendrängend.

Also einsam,
Zehn und zwölfe hier so leidgemeinsam,
Da und dort verstreut auf grauer Oede,
Weiße Tüchlein aufgebunden Jede.

Also trauernd,
Innerlich vor Frost zusammenschauernd,
Stehn alljährlich sie als Klagebildniß,
In des winterlichen Waldes Wildniß.
Christian Wagner blickt aus dem Fenster, 1915.

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