Tod und Utopie (1) – Ein Element des Seins

Die Menschen sterben und sie sind nicht glücklich.

Mit diesem fulminanten anthropologischen Befund drückte Albert Camus in seinem Drama „Caligula“ die latente Verzweiflung der Menschen aus, für die der Tod ein unfassbares und im Grunde nicht affirmierbares Phänomen darstellt. Sein Lebtag hat Camus versucht, unter der Bedingung des unhintergehbaren Lebensendes Sinn in die kurze und zudem noch unbekannte Zeitspanne des Menschen auf Erden zu bringen. Sind die Menschen nicht glücklich, weil sie sterben? Oder ist es ihr Schicksal, nicht zum Glück befähigt zu sein und zu allem Unglück auch noch zu sterben?

Camus sieht den Menschen einsam im kalten Nichts stehen. Seiner existenziellen Grundbefindlichkeit der Fremdheit in der Welt kann er nicht ausweichen. In dieser Fremdheit besteht für Camus das Absurde jeglicher menschlicher Existenz: Leid und Elend, Leben und Tod, aber auch den ständigen Wiederholungen des Alltagslebens sind kein Sinn abzugewinnen, wenn man sich nicht selbst belügen will. Der selbstbewußt absurde Mensch ist ein Atheist.

Als leidenschaftlichem Agnostiker steht Camus der Trost von Religionen, die vage Hoffnung, dass nach dem Sterben noch etwas kommt, nicht zur Verfügung. Doch wenn nichts bleibt – ist dann nicht alle Mühe eitel? Vanitas vanitatum?

Ein ähnlich radikaler Denker wie Camus wäre möglicherweise der verführerischen intellektuellen Konsequenz erlegen, seinem sinnlosen Leben selbst ein Ende zu bereiten. Einen Ausweg oder wenigstens ein Umgang mit dieser Einsicht in immer währende Fremdheit und Absurdität scheint auch die absolute Kontemplation, die Passivität, der Rückzug aus dem sinnlosen menschlichen Treiben darzustellen. Aber Camus ist der Meinung, man könne der Absurdität nicht entkommen. Man müsse sie anerkennen, akzeptieren, also eine „philosophische Haltung“ ihr gegenüber gewinnen und dem an sich sinnlosen Dasein einen jeweils eigenen, individuellen Sinn verleihen. In seinen jungen Jahren hält er noch das Streben nach Glück für sinn- und inhaltstiftend („Der glückliche Tod“). Sein Romanheld Mersault, (der spätere „Fremde“), führt seine Vorstellungen allerdings im Laufe der Handlung selbst ad absurdum: allzu verkrampft beobachtet er sich selbst beim Leben und prüft täglich seinen Glückspegel. Menschliche Nähe, gar Gefühle wie Liebe, sieht er als seinem ehrgeizigen Vorhaben abträglich an. Am Ende des Buches stirbt Mersault an einer schweren Krankheit – angeblich vollständig glücklich, da mit den Gütern der Natur vereint. Ein Fazit, das eher einem Pfeifen im Walde denn einer tiefen philosophischen Einsicht ähnelt.

Auch Elias Canetti war ein erklärter Feind des Todes. Der Tod war sein Lebensthema. Er hat ihn von allen möglichen Seiten beleuchtet und eine Reihe brillanter Aphorismen über ihn hinterlassen. „Seit vielen Jahren hat mich nichts so sehr bewegt und erfüllt wie der Gedanke des Todes. Das ganz konkrete und ernsthafte, das eingestandene Ziel meines Lebens ist die Erlangung der Unsterblichkeit für den Menschen.“ Der Tod sei böse und nichtsnutzig, das Grundübel alles Bestehenden, das Ungelöste und Unverständliche, der Knoten, den niemand zu zerhauen gewagt hat. Der einzige Kampf, der es wert wär, gekämpft zu werden, sei der gegen den Tod, das sich-Abfinden sei Kapitulation, die als Weisheit verklärt würde. Aber es ging Canetti nicht um die Abschaffung des Todes, sondern um seine Ächtung, das Aufgeben jeder Kollaboration mit der Zumutung, die er darstellt.

Interessanterweise lehnt er sich – allerdings nicht ausdrücklich – an Camus‘ SysiphosHaltung an, wenn er seine Auffassungen denen Martin Heideggers entgegensetzt: Dieser hatte im Paragraph 53 von „Sein und Zeit“ behauptet, das Individuum konstituiere sich in seiner Einzigartigkeit durch ein Vorlaufen in den Tod. Das Sein zum Tode mache die Eigentlichkeit des Menschen aus und verbürge seine Freiheit. „Der Tod ist eine Weise zu sein.“ Canetti setzt dagegen sein Sein gegen den Tod. Es ginge nicht um ein Vorlaufen in, auch nicht um das Fortlaufen vor dem Tod, sondern die zu erstrebende Haltung sei ein Zurückstoßen des Todes.

„Hier steht er und sieht sich den Tod an. Der kommt auf ihn zu, er stößt ihn zurück. Er erweist ihm nicht die Ehre, mit ihm zu rechnen. Wenn dann die Verwirrung doch über ihn hereinbricht, – er hat sich nicht vor ihm gebeugt. Er hat ihn genannt, er hat ihn gehaßt, er hat ihn verstoßen. So wenig ist ihm gelungen, es ist mehr als nichts.“

Daß Unsterblichkeit die Lösung des existenziellsten Problems der Menschheit sei, kann Canetti sich aber ebenfalls nicht vorstellen: „Wie vielen wird es noch der Mühe wert sein zu leben, wenn man nicht mehr stirbt?“ Und er sieht auch die „Funktion“, die ein endliches Leben für die Gattung Mensch haben könnte: „Mich zwingt niemand, am Leben zu bleiben. Darum liebe ich es so. Es ist wahr, die Späteren, bei denen der Tod verpönt sein wird, werden diese eine größte Spannung nicht mehr kennen, und sie werden uns um etwas beneiden, auf das wir mit Freuden verzichtet hätten.“ Er wisse, daß der Tod falsch und schlecht sei, aber er wisse nicht, wodurch er zu ersetzen wäre. Und Canetti wundert sich, wie er überhaupt in der Lage ist, mit dem unaufhörlichen Bewußtsein und Gefühl des Todes leben zu können, zumal er keine der tröstlichen Religionen teilt: „welches Wagnis, welches furchtbare Wagnis!“ Dann und wann muß er aber doch mit dem Gedanken an die Unsterblichkeit des Menschen geliebäugelt haben, denn er postuliert, daß erst dann ernsthaft an die Überwindung des Todes gedacht werden könne, wenn der Mensch nicht mehr genötigt wäre, Nahrung zu sich zu nehmen. – Psychoanalytiker und Anthropologen gehen davon aus, dass dem Menschen die Todesverleugnung unabänderlich innewohne. Die biologische Evolution habe im Menschen ein unmögliches Tier geschaffen. „Obwohl wir diesem Bewusstsein [dem der Sterblichkeit – B.B.] auf der kognitiven Ebene nicht entfliehen können, sind wir auch nicht fähig, diese Tatsache existenziell wirklich zu akzeptieren.“ Dadurch aber werde die Verleugnung des Todes zu einer der wichtigsten Motivatoren unserer Spezies. Es ist dies allerdings eine Motivation ex negativo: Angst wäre uns ein wichtiger Lebensberater.

Um das Unvermeidliche aushalten zu können, haben sich die Menschen seit jeher Krücken geschaffen: Sie bedienen sich symbolischer Formen der Unsterblichkeit, indem sie Familien gründen und in ihren Nachkommen gewissermaßen weiterleben. Sie streben nach Leistung, die sie unvergessen und zum Bestandteil der großen Menschheitserzählung machen. Sie erfinden sich in Religionen ein individuelles Leben nach dem Tod. Und sie bewerten das Alter als ehrwürdigen, durch Weisheit geadelten Zustand.

Aber – um hier nur die letztgenannte Rationalisierung zu hinterfragen – wie viele von den Millionen alter Menschen waren und sind tatsächlich weise? Ist das Hauptkennzeichen des Alter(n)s nicht vielmehr Verlust an Fähigkeiten, Gedächtnis und Denkvermögen? Ist Altersstarrsinn nicht viel verbreiteter als Altersweisheit? Handelt es sich mithin nicht um einen Fall von psychohygienisch motivierter und sozial vererbter Schönfärberei?

Hier geht es zum zweiten Teil.

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