Tarkowski meets Kaurismäki: Wer hat Angst vor Béla Tarr?

Fragt man in seinem cineastisch vorgebildeten Freundeskreis nach dem ungarischen Regisseur Béla Tarr, erntet man auch dort nur Achselzucken. Denn Tarr ist einer der großen unbekannten Regisseure der jüngeren Filmgeschichte. Auch wenn seine Filme auf renommierten Filmfestivals liefen und sein Lebenswerk mehrfach ausgezeichnet wurde, ist er in Deutschland kaum bekannt. Zu Unrecht?

Vor zehn Jahren zeigte ARTE den 2007 erschienenen Film „Der Mann aus London“ (nach einem Roman von Georges Simenon), der für mich zur Einstiegsdroge wurde. Ich grub alles aus, was von Tarr auf dem internationalen Filmemarkt zu haben war. Das gestaltete sich allerdings schwerer als gedacht: Drei Filme musste ich sogar aus Südkorea beziehen, wo Tarr offenbar mehr geschätzt wird als hier in Europa. Seine Filme werden durchgängig im ungarischen Originalton gezeigt. Die Untertitel sind auf Englisch und – eben manchmal – zusätzlich auf Koreanisch, so wie einige Covertexte zeigen.

Entkoppelte Zeitgenossenschaft

Alle Filme drehte der Ungar in schwarz/weiß und alle beziehen ihren Reiz aus langen Einstellungen in geringer Anzahl. Die Kamera ist oft statisch auf einen Punkt oder eine Szene gerichtet und verharrt gefühlt ewig in ihr. Alle Filme haben Überlänge. Auch gesprochen wird nicht viel und es regnet ständig. Soweit die Ähnlichkeiten zu der Ästhetik von Tarkowski. An Kaurismäkis Stil erinnert hingegen eher das Sujet: abgehalfterte Menschen, meist Männer, aus der Unter- und unteren Mittelschicht; sie befinden sich an tristen Orten, die von der Zivilisation aufgegeben wurden; Charakterköpfe statt attraktiver Schauspieler zieren die Leinwand; alle rauchen, alle trinken. Eine größtmögliche Trostlosigkeit in der Umgebung und im Leben wird uns präsentiert. Klingt einladend, oder?

Sátántangó (Arbelos Films)

Aki Kaurismäkis Kleindramen spielen sich hauptsächlich in Städten ab. Tarr hingegen läßt seine minimalen Handlungen fast immer auf dem Land spielen. Die Trostlosigkeit ist dieselbe. Glaubte man bei seinen frühen Werken der siebziger und achtziger Jahre noch, hier wird die traurige Wirklichkeit im Ungarn des im Untergang befindlichen Sozialismus gezeigt, legen seine nicht weniger düsteren Nachwendefilme nahe, daß es dem Künstler wohl eher um die condition humaine geht: Armut und Perspektivlosigkeit machen die Menschen nicht besser, sondern wecken „primitive“ Instinkte, hebeln den sozialen Kitt, die Solidarität, aus und machen den Umgangston rauer. Mißtrauen und Mißgunst regieren und führen zu Aggressivität und Brutalität.

Die in Szene gesetzten landwirtschaftlichen Geräte muten mittelalterlich an. Nicht nur deshalb sieht man Tarrs Filmen ihre Zeitgenossenschaft nicht an. Sollte Tarr wirklich Dystopien geschaffen haben, wie einige Filmkritiker behaupten, dann sind es Untergangsszenarien der Rückentwicklung, der Regression, des Kulturverlustes. Hier sehe ich auch eine mögliche Brücke zu R.W. Fassbinder. Beide Regisseure ähneln sich zudem in ihrer Familiarität: Sie haben ein über Jahrzehnte bestehendes festes Schauspielerteam. Tarr verfilmte darüber hinaus sechs Romane des ungarischen Schriftstellers Lázló Krasznahorkai, der in Deutschland auch nur wenigen bekannt ist, obwohl er einige Zeit sogar hier gelebt und gewirkt hat. Zwei treue Melancholiker.

Handlungsarme Ästhetik ohne Happy End

Als opus magnum Tarrs gilt die Verfilmung von Lázló Krasznahorkais Roman „Sátanstángò“. Er wurde 1985 in Ungarn publiziert und war das Debut des Schriftstellers. Tarr begann 1987 mit den Dreharbeiten, die bis 1994 dauern sollten. Er legte Wert darauf, dass der Film genau die gleiche Zeitspanne dauert, die man benötigt, um den Roman zu lesen: siebeneinhalb Stunden. Der Romanautor selbst hat das dazugehörige Drehbuch geschrieben und am Film mitgearbeitet.

Die Handlung ist schnell umrissen und klingt nicht sonderlich packend. Aber bei Béla Tarr ist es ohnehin die Form und Ästhetik, die das Geschehen vorwärtstreiben. Es wäre nicht übertrieben zu behaupten, die Ästhetik ist die Handlung. Tarrs Filme sind deshalb etwas für cineastische Feinschmecker, die es nach Höhenflügen der Raffinesse wieder zurück zum Purismus zieht. Diese Tendenz zeigt sich auch in dem von Robert Eggers 2019 gedrehten Kammerspielfilm „Der Leuchtturm“.

Welche Geschichte erzählt uns „Sátánstangó“? In einem Dorf am Ende der Welt leben noch 11 Menschen: drei Ehepaare, ein Mann, eine Frau, drei Kinder und der ehemalige Dorfarzt (großartig gespielt von Peter Berling). Alle anderen haben die Heimat verlassen, vermutlich weil ein landwirtschaftlicher Großbetrieb seine Arbeit eingestellt hatte. Den restlichen Dorfbewohnern mangelte es an Kraft, Elan und der Überzeugung, daß es woanders im Land besser sei. Man sieht sie saufen und huren, sich gegenseitig belauern und der Aussichtslosigkeit hingeben.

Sátántangó (Arbelos Films)

Da tauchen plötzlich zwei der weggegangenen Männer auf und versprechen, zusammen mit allen Bewohnern eine neue Existenz, einen neuen Betrieb aufzubauen und Wohlstand zu schaffen. Dem eloquenten Irimiás gelingt es mit einer packenden Ansprache die Herzen höher schlagen zu lassen. Als seien sie dem Messias begegnet leuchten die Augen der zuvor Resignierten. Sie machen sich sofort und voller Enthusiasmus daran, das Nötigste ihres wertlosen Hab und Guts zusammenzupacken und am nächsten Morgen mit einer Karawane aus Pferde- und Handwagen das Dorf zu verlassen. Sie hatten am Vorabend ihr gesamtes Spargeld zusammengelegt und Irimiás ausgehändigt. Sie wissen nicht, daß die beiden „Heimkehrer“ mit Gaunereien und Spitzeldiensten für den Staat ihren Lebensunterhalt in der Fremde verdient hatten. Den Ausgang des Experimentes will ich hier nicht entdecken. Nur so viel sei gesagt: Überraschung – es gibt kein Happy End.

Ein Motiv Tarrs erscheint in mehreren Filmen: das der Beobachtung, Registrierung und Dokumentierung des Verhaltens der Mitbürger. Nicht nur die beiden Gauner-Spitzel schreiben auf, was das Zeug hält, auch der Dorfarzt tut den ganzen Tag nichts anderes als trinkend an seinem Fenster zu sitzen und extra dafür vorgesehene Kladden – jeder Dorfbewohner hat ein eigene – mit allem zu füllen, was er beobachtet. Da das nicht viel ist, ergänzt er seine Beobachtungen durch eigene Interpretationen und Spekulationen. Ein Sinn dieser akribisch, fast schon liebevoll geführten Protokolle ist nicht erkennbar. Klar ist nur, daß er sie in eigenem Auftrag schreibt, nicht für eine staatliche Institution.

Überhaupt enthält das filmische Werk Béla Tarrs viele absurde Momente. Ins Skurrile driftet es aber nie ab. Nichts ist wirklich zum Lachen komisch, denn die Menschen sind keine Karikaturen. Sie sind individuell und differenziert gezeichnet. Die Figuren werden nicht vorgeführt oder denunziert, sie kommen dem Zuschauer im Laufe des langen Filmes immer näher und wecken Sympathie. Vielleicht kann man den Langfilm „Sátánstangó“ als eine Art Serie betrachten und behandeln. Wer das Ende erreicht, also zwischendurch nicht aufgegeben hat, wünscht sich eine zweite Staffel – hundert Pro!

 

 

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