Seitensprung (4)

In Zeiten von Quarantäne-Maßnahmen war nichts so sehr en vogue wie Literatur- oder Beschäftigungstipps gegen die Langeweile zu liefern. Für den geneigten anbruch-Leser aber wird Langeweile ohnehin ein Fremdwort sein. Diesmal also kein Seitensprung gegen die abendliche Leseunlust, sondern für mehr Abwechslung im Pandemie-Lektüretipp-Dschungel.

Hier geht es zu den vorausgehenden Teilen des Seitensprungs.

Emanuel Maess – Gelenke des Lichts

„Von Anfang an außerhalb studentischer Ballungsräume um Orientierung ringend, versuchte ich verzweifelt, in den Höhen der letzten Bänke Luft zu holen.“

Wie liest sich eine Synthese aus Campus- und Bildungsroman, die dazu noch von einer Liebesgeschichte zehrt? In dem Debutroman von Emanuel Maess jedenfalls deutlich besser als man erwarten könnte.

Ein junger Mann wird inmitten seiner Sturm- und Drangphase durch eine Begegnung mit einer jungen Frau bei einem dionysischen Neptunfest in späten DDR-Tagen nachhaltig bewegt. Sie erregt seine Sehnsucht nach Schönheit und Wahrheit. So prätentiös das auf den ersten Eindruck klingt, ist es keinesfalls. Maess blickt mit Aufrichtigkeit und Tiefe in das Innenleben eines ambivalenten jungen Mannes, wobei die seichten Handlungsstränge dabei nur den Hintergrund der Erzählung bilden. In der langsamen und wortreichen Sprache begegnet uns ein Hauch von Wiederverzauberung, was für den zeitgenössischen Literaturbetrieb unüblich ist.

Aufmerksam bin ich auf den Roman passenderweise nicht durch das Feuilleton, sondern durch eine Twitter-Kommentarspalte geworden. Ein mir nicht mehr bekannter Nutzer empfahl diesen Roman, der bereits durch seinen wunderbaren Titel „Gelenke des Lichts“ meine Aufmerksamkeit erregte. Eine kleine Rechtfertigung für diese Plattform also. Zweifelsohne verdient Maess Roman mehr Rampenlicht.

„Als ich mich damals für Philosophie, Philologie und Geschichte einschrieb, ahnte ich noch nicht, wie gut diese Kombination zu einem Freilichtmuseum wie Heidelberg passte. Jene Vergangenheit, die nirgends mehr existierte und nur für nostalgische Erstsemester noch einmal aus den Büchern aufstieg, brachte es fertig kurze Zeit wie meine Zukunft auszusehen.“

Emanuel Maess, Gelenke des Lichts, Wallstein Verlag 2019, 20,00€.

Botho Strauß – zu oft umsonst gelächelt

Es gibt Autoren, die werden bereits zu Lebzeiten mit so viel Ruhm geschmückt, dass ihre eigene Person und das nachfolgende schriftstellerische Schaffen möglicherweise davon überdeckt werden. Botho Strauß ist einer dieser wenigen Autoren, auf die das zutrifft. Hinzu kommt noch sein sich gern überschwänglich exponierender Sohn, über dessen schriftstellerisches Schaffen man gespaltener Meinung sein kann. Gleichzeitig hat Strauss allerdings einen unverwechselbaren Stil geprägt, sodass jeder Leser mit ziemlicher Sicherheit weiß, worauf er sich bei einer Neuerscheinung einlässt. Das alles kann, muss aber wie bei Strauss, nichts Schlechtes sein, denn der Eremit schafft es an einen seiner größten Würfe, „Paare, Passanten“, anzuknüpfen und stellenweise sogar zu überraschen.

Mit „Zu oft umsonst gelächelt“ nimmt Strauss die Welt der Paare in den Blick, speziell die Beziehung zwischen Mann und Frau. Das alles in einem heiteren Tonfall, bei dem eine gewisse Freude an Spott nicht zu überlesen ist. Dieser humorvolle Ton führt durch eine kurze Geschichtensammlung, die Paare im Kino, im Männerchor oder in einem Restaurant zeigt. Wir befinden uns hier also wie gewohnt nicht in einer romanhaften Erzählung, sondern in fragmentarischen Kurzpassagen, mit denen Strauss versucht in jedem Satz aufs Ganze zu gehen. Das fügt sich gut zusammen, wenn Strauss die mythischen Urgründe menschlicher Beziehungen fernab des soziologisch-regulierten Geschlechterumgangs beobachtet. Unmissverständlich wird klar: Unter dem hauchdünnen Firnis der Zivilisation brodelt das Magma.

Wahrscheinlich eine der besten Straussschen Neuerscheinungen der letzten Jahre.

„Mann und Frau sind niemals Partner. Eine Frau ist Verehrte oder Begehrte, Dulderin oder Unduldsame, Lügnerin oder treue Seele, im besten Fall Kombattantin im gleichen Vorwärts und Entgegen, gleichwertig, gleichberechtigt… – nur niemals ein Partner. Ordinäre Anleihe aus dem Geschäftsleben. Man unterschätze nicht die Magie der Banalität, die mit solcher Bezeichnung in jede Liebe einzieht und sie aushöhlt.“

Botho Strauß, Zu oft umsonst gelächelt, Hanser 2019, 22,00€.

Joachim Kaiser – Imaginäre Gespräche

Mit Toten reden, diese Praktik vollzog der mittlerweile selbst verstorbene Großkritiker und „letzter Mohikaner“ Joachim Kaiser in seinem kleinen Bändchen „Imaginäre Gespräche“. Diese Dialoge sind allerdings, anders als sich zunächst vermuten lässt, weder Selbstgespräch noch vollends imaginiert. Der von Marcel Reich-Ranicki mit dem Titel versehene „fröhlicher Wissenschaftler und gründlicher Journalist“ stellt Dichtern und Denkern Fragen, die er auf Grundlage etlicher Schaffenszeugnisse der Befragten beantwortet. Kaiser holt somit die Worte aus dem „Grab ihrer Gesamt-Ausgaben und Biographien“ heraus und hilft ihrer Vitalität zu einer kleinen Wiedergeburt zwischen den Buchdeckeln.

Dass in diesem eleganten Gesprächs-Potpourri Ludwig van Beethoven oder Clara Schumann Urteile über musikalische Zeitgenossen fällen, ist weniger überraschend als dass etwa Ingeborg Bachmann Sentenzen über den Seelenzustand des Mannes entlockt werden oder Ernest Hemmingway mit seinem für Schriftsteller untypischen Draufgängertum zu konfrontieren. „Imaginäre Gespräche“ sind nicht nur eine wunderbare Inspiration für künftige anbruch-Texte, sondern vor allem ein Zeugnis für eine mit Niveau feuilletonisierte Alt-Bundesrepublik, die in dieser Form sicher keine Auferstehung mehr feiern wird.

In vino veritas: es scheint, daß ich auch hier wieder über den Begriff >Wahrheit< mit aller Welt uneins bin.

Friedrich Nietzsche

Joachim Kaiser, Imaginäre Gespräche mit Dichtern, Denkern, Musikern, Piper 1998, antiquarisch.

William S. Burroughs/Jack Kerouac – Und die Nilpferde kochten in ihren Becken

Beat – Das sind weiße T-Shirts, in Form gebrachte Tollen, Zigaretten im Mundwinkel, Alkoholexszesse, politischer Anarchismus, Jazz, Literatur und Sex. Kulturpessimistisch gesprochen wäre Beat also eine weitere Stufe im allgegenwärtigen Verfall vom klassisch konservativ-familienorientierten Gesellschaftsideal. Man möge sich ins Gedächtnis rufen, dass sich Alen Ginsberg noch im Jahr 1956 vor dem amerikanischen Gericht für sein obszönes Gedicht Howl verantworten musste. Die Energie jedoch, die von dieser Nachkriegs-Beat-Generation ausging, ist zumindest im Roman nur schwer zu leugnen und ich lasse mich nur allzu gerne davon mitreißen. Diese Bewegung hat ihre Ursprünge allerdings schon in den 1940er Jahren, und zwar mit den Gallionsfiguren William S. Burroughs und Jack Kerouac.

Auch wenn sich über 60 Jahre kein passender Verleger fand, stand zu Beginn des Beat ein sogenannter hardboiled Roman, den Kerouac und Burroughs im Jahr 1945 gemeinsam unter Pseudonym verfassten. „Und die Nilpferde kochten in ihren Becken“, ein Zitat einer Tageszeitung, die über den Brand in einem Zoo berichtet, handelt von einem Mord im Freundeskreis der beiden Autoren. Der Roman ist allerdings weniger aus kriminalromanüblichen Gründen spannend, sondern wie zu erwarten, für seine Milieu- und Lebensschilderungen von Säufern und Seemännern.

William S. Burroughs/Jack Kerouac, Und die Nilpferde kochten in ihren Becken, Nagel & Kimche 2010, antiquarisch.

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