Ruinierte Ruinen

Ruinen gelten in der Kulturlandschaft als erhaltenswert. Ausnahme sind vielleicht moderne Investitionsruinen, also Großflughäfen und Großbahnhöfe, die niemals fertig wurden. Doch alles, was älter ist als 100 Jahre und nicht mehr im baulichen Bestzustand, hat gute Aussichten auf öffentlich geförderten Erhalt als Ruine oder gar auf eine Wiederinstandsetzung. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um eine mittelalterliche Burgruine oder ein gründerzeitliches Fabrikgebäude handelt. Hauptsache alt, so die Devise. Doch was sagen uns Ruinen eigentlich – außer dass es sich um Bausubstanz im Niedergang handelt? Und was sollten wir mit ihnen anfangen?

Kult der Ruine

Ruinen haben nicht erst seit heute Konjunktur. So manche uns heute als mittelalterlich erscheinende Burgruine wurde bereits als Ruine erbaut – meist von adligen Bauherren im späten 18. Jahrhundert, denen der Sinn nach ein wenig historischer Kulisse stand, denen ein kompletter Burgneubau aber zu teuer gewesen wäre.

Und manch ein romantisch inspirierter privater Eigenheimer aus der Gegenwart erbaut in einem Winkel seines Grundstücks – meist zum Zwecke der Errichtung einer wind- und sichtgeschützten Sitzecke – aus alten Bruchsteinen Mauerfragmente, die so tun, als ob sie der Überrest eines Gebäudes aus dem 17. Jahrhundert sind und aus Irland oder Korsika stammen. Das freilich nimmt sich inmitten der Einöde moderner Schlafvorstädte oder langweiliger Reihenhaussiedlungen auf dem Lande unfreiwillig komisch aus. Besonders dann, wenn auf dem Gemäuer eine Satellitenschüssel oder ein Photovoltaikelement thront. 

Die Ruine als Ort der Besinnung

Doch unser Thema sind die echten Ruinen. Also das, was im Laufe der Jahrhunderte auf eine grundsolide und ehrliche Art durch Witterungseinflüsse, feindliche Kanonenkugeln, Brandkatastrophen oder schlicht am Zahn der Zeit zugrunde ging und uns Heutigen etwas vor Augen führt. Doch was?

Zum einen erinnert die Ruine an vergangene Zeiten, zum anderen an die Vergänglichkeit selbst. Eine Ruine schafft den Brückenschlag – sei es in eine frühere Epoche oder gar in einen metaphysischen Bezirk, in dem wir uns gedankenschwer ergehen. Eine Ruine stiftet zum Nachdenken an. Das kann durchaus erhellend sein und ist insofern erfreulich, als die Ruine dabei Ruine bleiben darf.

Das erhebt die Ruine, selbst oder gerade wenn sie ihrer ursprünglichen Funktion beraubt ist, längst keinen konkreten Nutzen als Heimstatt, Kapelle, Verteidigungsanlage oder Wirtschaftsgebäude mehr hat, über die Trivialität irgendeines beliebigen dreidimensionalen Objekts in der Landschaft hinaus. Gerade dass sie keinen Nutzen mehr hat, macht ihre Bedeutung aus.   

Der Ruin der Ruine

Mitunter kommt es vor, dass eine Ruine von kundiger Hand nach alten Vorlagen instandgesetzt wird, so als wäre in all den Jahrhunderten nichts geschehen. Solche Sanierungen gleichen Senioren mit strahlendem Zahnprothesenlächeln – man merkt, dass es nicht echt ist, freut sich aber irgendwie mit ihnen. Und dann gibt es Instandsetzungen, bei denen (sofern nicht Argumente des Denkmalschutzes vehement dagegensprechen) uralte in Resten erhaltene Bausubstanz eine Mesalliance eingeht mit dezidiert modernen Baustilen.

Zur Natursteinmauer aus regional anstehendem Gestein gesellen sich Sichtbeton (im Stil des Brutalismus), Glasfassaden, Stahl und Edelstahl und sozusagen als verbindendes Element grob Gehobeltes im Shabbylook – solche Kombinationen aus historischer Ruine und Baustoffhandel beherbergen nach ihrer Vollendung gern Szenegastronomie, Kaffee-Bars, Digital- oder Öko-Start-ups, Agenturen und Beratungsfirmen, schicke Konsumtempelchen, Kulturwerkstätten mit veganer Speisekarte oder Clubs. „Auferstanden aus Ruinen“ als Hipster-Remix.

Gleicht die nach Vorlage rekonstruierte Ruine noch dem teuren, aber falschen Implantatelächeln, haben wir hier die hässlich verzerrte Grimasse eines Zeitgeistes vor uns, der es zu nichts Eigenem von Beständigkeit gebracht hat. Ihm ist wenig möglich außer willkürlichen Kombinationen aus allem, was gerade zufällig herumliegt. Natürlich gesteht man sich diese entsetzliche gedankliche Impotenz, diese endlose Folge ästhetischer Fehl- und Missgriffe nicht ein, sondern beansprucht für solche architektonische Leichenentstellung dann auch noch Anerkennung. Also dann: Glückwunsch, ihr Stümper. Ihr habt die Ruine ruiniert. Besser wäret ihr noch einen Schritt weiter gegangen.

Ein Vorschlag

Wahrlich: Unsere von sich selbst und ihren Höchstleistungen in Sachen Sinnverdrängung und Amüsierlust besoffene Zeit hat die Vergangenheit nicht verdient. Befreien wir unser Hier und Heute also beherzt von allem, was nicht zeitgeistkonform ist und an größere vergangene Tage erinnert – an Zeiten, in denen Menschen Götter verehrten, ihr entbehrungsreiches Leben mit harter Arbeit verbrachten und das Glück darin sahen, ihre Kinder und vielleicht auch noch die Kindeskinder aufwachsen zu sehen.

Zerstören wir die Ruinen doch bitte endgültig, schaffen wir Raum für noch mehr Einkaufsmöglichkeiten, Genderberatungsstellen, Begegnungsstätten, Altenheime, Wellnesseinrichtungen, Ladestationen für E-Autos, Windkraftanlagen und dergleichen Herzerwärmendes mehr. Sich zur Nachdenklichkeit anregen lassen – wer will das denn schon noch? Haut den ganzen alten Kram weg. Er stört nur.

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