Rotting Christ: Musikgeschichte aus dem griechischen Untergrund

Jede Zeit hat ihre Jugendkulturen, die wiederum ihre eigene Musik haben. Ab Ende der 1980er bzw. Anfang der 1990er Jahre erwuchs aus verschiedenen Antrieben in verschiedenen Ländern die sogenannte zweite Welle des Black Metal. Während die Musikpresse allenfalls auf Suizide, Morde und Kirchenbrandstiftungen vor allem in Norwegen schaute, begründeten und prägten in Südeuropa die Brüder Sakis und Themis Tolis die Black Metal Szene. Einen eigenen Klang, den „Hellas-Sound“ brachten sie mit der Band Rotting Christ hervor. Doch bis dahin war ein steiniger Weg zurückzulegen.

Gegründet 1987, unterschied sich die Welt der hellenischen Rotting Christ-Metaller Sakis und Themis erheblich von der in Deutschland oder Skandinavien. Die völlig entfesselten Norweger waren in der Regel Kinder aus wohlhabenden, bildungsbürgerlichen Elternhäusern. Hingegen entstand die griechische Szene in bitterer Armut.

Die Eltern der Tolis-Brüder zog es in den 1970er Jahren vom armen ländlichen Raum nach Athen. Es war seinerzeit eine natürliche Binnenwanderung: Wer Arbeit suchte, ging in die großen Städte. Die Tolis-Brüder wuchsen frei auf: Vater und Mutter schufteten und konnten sich um ihre Sprößlinge nicht sonderlich kümmern. Das orthodoxe Christentum war in der Familie nicht tonangebend; untypisch für diese Zeit. Die Tolis-Jungs vertrieben sich (nach der Schule) ihre Zeit auf der Straße. Mit zunehmendem Alter und dem ersten Kontakt zu Gruppen wie Venom, Bathory und Celtic Frost begann der Einstieg in eine bunte, rebellische Szene. Punks und Hardcore, Hooligans und Metaller, Bier, Joints und manchmal auch LSD – diese gefährliche Mischung entlud sich in Athens Jugendtreffs und Konzerträumen regelmäßig in Gewaltorgien und Schlachten mit der Polizei des autoritär geprägten Systems Griechenlands. Es hieß einfach nur, dagegen zu sein, ein theoretischer Überbau war dafür nicht nötig. Das staatliche Spießertum schlug daraufhin mit aller Härte zurück.

„Ich werde nicht dienen!“

Der seit etwa 2015 sehr umtriebige Verfasser und „Szene-Chronist“ Dayal Patterson zeichnet die Stationen von Rotting Christ detailreich und lebhaft nach. Der Leser fiebert regelrecht mit, wie Rotting Christ ausgerechnet zu ihrem zweiten Kultalbum „Non Serviam“ (1994) regelrecht aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden, weil die griechische Plattenfirma Unisound faktisch keine Werbung macht. Keine Plattenverkäufe, kaum Konzerte – außerhalb Griechenlands wähnte man Rotting Christ tot.

Die Biographie der Band Rotting Christ, erhältlich bei Cult Never Dies.

Wie sich nun die Musik von Rotting Christ entwickelte, die im Grindcore begannen und spätestens durch gut produzierten, melodischen Black Metal kommerziell tauglich wurden, ist hier nicht näher auszuführen. Zu jeder Veröffentlichung gibt es ein eigenes Kapitel. Ob die nun immer so spannend sind, wenn man ein Album gar nicht kennt, sei dahingestellt. Aber Rotting Christ und Gruppen aus deren Umfeld wie Necromantia, Thou Art Lord oder Kawir haben die Black Metal Szene jahrzehntelang auf ihre Art geprägt. Bedenkt man, daß die erste Tribut-CD an Darkthrone bereits in deren zehntem Existenzjahr auf den Markt kam, ist eine Biographie nach 30 Jahren Bestehen einer Musikgruppe wie Rotting Christ mehr als berechtigt.

Nun hat die Metalszene in Deutschland – wie unser Land selbst – eine Demographieproblem. Wer heute ein Konzert von Iron Maiden oder Slayer, aber auch bekannter und unbekannter Black Metal Bands besucht, wähnt sich in der Altentagespflege. All überall weht graues Haar wie Lametta, oder gleich eine Glatze oder bürotaugliche Kurzhaarfrisuren dominieren. Ganz anders, wenn man Konzerte in Osteuropa oder Südamerika sieht. Dort ist das Publikum noch frisch, wild und jung wie in Deutschland vor 20 oder 30 Jahren.

Alte und neue Fans werden Gefallen an diesem tiefen Einblick in die Geschichte einer musikalischen Rebellion finden, die trotz anarchistischer Züge immer aber auch den Stolz auf ihre hellenische Herkunft betont.

Wer Rotting Christ bisher nicht kannte: Bei Youtube läßt sich alles Mögliche anhören. Von den rumpeligen ersten Lebenszeichen wie „Passage to Arcturo“ über die ersten kommerziellen Alben „Triarchy oft he Lost Lovers“ und „A dead poem“ bis zum aktuellsten Material.

Die Biographie erschien bisher ausschließlich auf Englisch. Für Puristen als erschwingliches schwarz-weißes Paperback. Eine bibliophile Sammleredition im vollfarbigen Hardcover mit T-Shirt, Glanzdrucken usw. in einer Sammlerbox gibt es andererseits für jene Freunde des edlen Geschmacks.

Hier geht es zur Biographie.

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