Psychedelische Tropenreise in schwarz-weiß

Es scheint müßig, den vielen begeisterten Kritiken und Lobpreisungen des kolumbianischen Ausnahmefilms Der Schamane und die Schlange (2015) eine weitere hinzuzufügen. Doch es ist lohnenswert. Denn nur selten wurde die vielschichtige Beziehung zwischen Mensch und Natur so frei wie in diesem Werk reflektiert.

Abenteuerfilm trifft auf Amazonas-Sage

Der Schamane und die Schlange ist von seiner Grundstruktur her ein Abenteuerfilm. Im Mittelpunkt steht nämlich die Suche der Helden nach dem Schatz, bei dem es sich in diesem Falle um ein seltenes Heilkraut handelt. Lesern von Daniel Kehlmanns Vermessung der Welt wird einiges in diesem Film bekannt vorkommen, denn er ist zudem eine Art Historienfilm, der verbürgte Begegnungen und Geschehnisse filmisch verarbeitet. Über die Figur des Schamanen, namentlich Karamakate, mittels derer interessanterweise an das Bildungsromanmotiv der Selbstfindung angeknüpft wird, erfolgt besonders die Einbeziehung kosmologischer Konzepte der indigenen Amazonas-Stämme.

Deren mythische Vorstellung, dass eine Art Überpersönlichkeit sich in verschiedenen Menschen zu manifestieren pflege, bestimmt die Interpretation der beiden historischen Forscherfiguren Theodor Koch-Grünberg und Richard Evans Schultes, sodass das Genre der indigenen Legende oder Sage einen weiteren entscheidenden Grundzug des Films bildet. Diese Kosmologie entfaltet sich zudem in der besonderen Präsenz des Waldes, der in dem Film die Rolle des weiblichen Charakters einnimmt: Der Wald hat in der Weltsicht der Amazonas-Stämme den Platz, der hierzulande der mythischen Mutter Erde oder Gaia zukommen würde. Aber diese üppige Wald-Mutter – Wäldin möchte einer in Trakl’scher Manier sagen – ist nicht idyllisch, eher spektakulär als schön. Sie verlockt durch Kostbarkeiten und Geheimnisse, doch den Menschen ist sie ein unberechenbarer Raum voll Gefahr, Wahnsinn und Verschwendung, von hartnäckiger Stummheit bis hin zur Sinnlosigkeit.

Mitte: Theo (Jan Bijvoet) // © Copyright Andres Cordoba/ Verleih: MFA+ FilmDistribution e.K.

Die Überfülle des Dschungels als Kino-Ereignis

Es wurde oft darauf hingewiesen, dass Der Schamane und die Schlange mit den Mitteln des Kinos einem gelungenen Dialog der Kulturen Raum gebe, dass er den indigenen Stämmen des Amazonas eine eigene Stimme schenke, dass das Werk eine kaum bekannte Welt und ihre Geschichte vergegenwärtige. Das alles ist richtig, aber der Film führt weiter. Dem Publikum möge wohltuend auffallen, dass keine einseitigen Geschichtsphilosophien mit wohlfeilen Schuldzuweisungen bedient werden. Die üblichen Abziehbilder und Assoziationen von den „offenen Adern“ Südamerikas und ihrer fremdgesteuerten Ausbeutung, den kapitalistischen oder (post)kolonialen Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnissen werden kaum gestreift. Des Kontinents Überfülle ist hier, parallel zu einem Diktum Gómez Dávilas, eine Überfülle des reinen Chaos – nicht des Reichtums, und schon gar nicht der Unschuld.

Die Entscheidung des Regisseurs Ciro Guerra für puristische Schwarz-Weiß-Bilder erscheint nicht nur als Versuch, sich der in zahllosen Regenwaldreportagen sattsam ausgestellten „tropischen Farbenpracht“ zu entziehen, sondern diese Überfülle ästhetisch zu bändigen. Aber vor allem ist es eine Hommage an die Daguerreotypien des deutschen Ethnologen Koch-Grünberg, die dieser während seiner Amazonas-Expeditionen um 1900 anfertigte, sowie das Eingeständnis, dass die Farben des Amazonas medial nicht einzufangen sind. Auch die modernste Bildtechnologie gibt schlichtweg nicht die geschmeidige Differenziertheit der indigenen Amazonas-Sprachen her, die allein für Grüntöne circa 50 Ausdrücke kennen.

v.l. Theo (Jan Bijvoet), Karamakate (Niblio Torres) // © Copyright Andres Cordoba/ Verleih: MFA+ FilmDistribution e.K.

Es wird keine Heimkehr geben

Den sagenhaften und psychedelischen Anmutungen zum Trotz lebt der Film von einem geradezu nüchternen, konstruktiven Pragmatismus. In Anlehnung an Lévi-Strauss könnte man sagen, dass er sich den Traurigen Tropen als Grundtatsache nicht verschließt, sondern sie zu begreifen versucht als Facette der schwierigen Beziehungen zwischen Mensch, Natur und Geschichte. Ziel kann nicht Rückkehr oder gar Flucht zur Natur sein, als wäre diese eine Art friedliche, aber vergessene Heimat, sondern ein möglichst vernünftiger, würdevoller Fortgang – obwohl, oder gerade weil, keine geschichtliche Begegnung gänzlich konfliktfrei bleiben kann. Die Ethnologie kann helfen, dem deterministisch entstellten Begriff der Alterität wieder menschliche Maße zu geben und so einen echten, mehr als nur „interkulturellen“, Respekt zu lehren, als Voraussetzung für Handlungsmöglichkeiten in Freiheit.

Zugegeben: Ein weites Feld! Doch ist eines der Hauptverdienste von Der Schamane und die Schlange, an diese Herausforderung zu erinnern, und unter Verzicht auf bequemes Schwarz-Weiß-Denken die Hoffnung auf Gelingen nicht außen vor zu lassen.

 

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