Ostdeutschland verstehen

Wer einmal einen Staat verschwinden sah, betrachtet aktuelle Mächte ohne letzten Ernst.“

Christoph Dieckmann

Die Ossis wählen falsch: Die Geistesarbeiter in West- wie in Ostdeutschland sind sich nahezu einig darüber, daß die ehemaligen DDR-Bürger nur unzureichend demokratiefähig seien. Außerdem ängstlich und autoritätshörig. Das Durchleben zweier Diktaturen habe sie für Totalitarismen anfällig gemacht, so der Tenor. Den Nationalsozialismus hätten sie nicht verarbeitet, viele, allzu viele trügen immer noch einen kleinen Hitler in sich (Ines Geipel) und nun ist es soweit: sie entpuppen sich wieder als das, was sie offenbar immer waren, nämlich Nazis, Rassisten und Fremdenfeinde. Am sichersten in ihren (Vor-)Urteilen wähnen sich Westdeutsche, die in den vergangenen dreißig Jahren kaum oder gar nicht mit dem deutschen Osten und ihren Bewohnern in Kontakt kamen, und Linksliberale, die ihre Medienblase und ihre bis bürgerliche Wohngegend höchstens einmal zu Transitzwecken verlassen.

Ostdeutschland als Forschungsgegenstand

Aber es gibt natürlich unter ihnen auch Ausnahmen: Der Soziologe Wolfgang Engler (geboren 1952 in Dresden) und die Schriftstellerin Jana Hensel (geboren 1976 in Leipzig) – beide über jeden Verdacht, Sympathien für die AfD oder Pegida zu hegen, erhaben und sich selbst als „links“ verstehend – beschäftigen sich seit Beginn der neunziger Jahre mit dem Wandel in ihrem ehemaligen Heimatland und ihren Bewohnern. Jana Hensel ist mit ihrem Buch „Zonenkinder“ aus dem Jahr 2002 bekannt geworden, Wolfgang Engler hingegen bereits im Jahr 2000 mit seinem ersten Analyseversuch „Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land.“ Im vergangenen Jahr haben sie ein gemeinsames Buch herausgebracht, das ihre Gespräche über das sie verbindende Thema dokumentiert: „Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein“.

Die beiden Autoren versuchen – mit Erfolg – die herrschende Oberflächlichkeit im Blick auf ihre Landsleute zu unterwandern und in die Tiefe zu blicken. Den Forschungsgegenstand zu verstehen, in diesem Fall die Ostdeuschen, setzt eine Analyse durch kühle Köpfe voraus, die sich dadurch auszeichnen, sich selbst mit ihren Denkgewohnheiten und irgendwann einmal gewonnenen Überzeugungen infrage stellen zu können. Im günstigsten Fall wissen sie um die Dialektik des Zeitgeistes: die heute vorherrschende Meinung oder Ideologie war gestern noch die einer Minderheit, ja sogar die von Außenseitern. Wird sie von einer Mehrheit geteilt, hat sie ihren Rubikon überschritten. Wird sie zum Zeitgeist, ist sie bereits nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Sie wird vulgär, dogmatisch und bedient sich totalitärer Mittel, um ihre Ersetzung durch eine andere, die im Gegensatz zu ihr die neuen Tatsachen der jeweiligen Gegenwart angemessener interpretiert als sie selbst es noch kann, zu verhindern. Der Osten hat seine Lektion mit Betonköpfen, die „die Karre an die Wand fuhren“, gelernt und weiß, was es bedeutet, wenn scheinbar moralisch Überlegene die Andersdenkenden als „Hetzer“ titulieren. „Antisozialistische Hetze war nämlich ein Straftatbestand, der über eine übliche Geldstrafe hinweg streng geahndet wurde. Sprechgesetze eines vormundschaftlichen Staates, wie die „political correctness“ heute, lösen zunächst Befremden, später Fassungslosigkeit und am Ende Wut aus.

„Wenn Ostdeutsche etwas wirklich nervt, zur Weißglut treibt, dann das Ansinnen, Bekenntnisformeln ohne innere Überzeugung abzuspulen. Diesbezüglich steht der „Unrechtsstaat“ auf einer Stufe mit dem „antifaschistisch-demokratischen Schutzwall“ und der „unverbrüchlichen, brüderlichen Treue zur Sowjetunion“. Loyalitätsbekundungen, die im Munde gleich zu Asche werden, kaum daß die Lippen sich bewegen, davon hatten und davon haben sie genug.“

Wolfgang Engler

Da wurde den Ostdeutschen etwas vorgesetzt, das sie 1989/90 nicht bestellt hatten, wie Engler formuliert. Aber dies nicht nur bezüglich der Meinungs- und Pressefreiheit, sondern ganz fundamental auch bezüglich der ökonomischen Verhältnisse: „ …wenn man sich an die Transparente und Spruchbänder erinnert, mit denen die Ostdeutschen 1989 auf den Straßen und öffentlichen Plätzen demonstrierten, ,zügige Privatisierung unserer Staatsbetriebe‘ stand darauf nicht zu lesen.“   

Vom Privaten ins Politische

Dreißig Jahre sind vergangen, seitdem die Ostdeutschen sich voller Euphorie und Vertrauen in die Arme der westdeutschen Brüder und Schwestern fallen ließen. Wie 1946 die antifaschistische Regierung erhielt auch die bundesrepublikanische 1990 von der Mehrheit der Bevölkerung Vorschußlorbeeren verliehen. Das bisherige Regime wurde aus ganzem oder zumindest halbem Herzen verdammt, und die, die jetzt alles anders machen wollten, erhielten ihre Chance. Man war bereit mitzuziehen und schluckte manche Kröte hinunter – in der weisen Einsicht, daß da, wo aufgebaut wird, auch eingerissen werden muß.

In der DDR war 1953 das Vertrauen verspielt. Erstmals kam es zu offenem Widerstand. Als dieser scheiterte und die Regierung die Instrumente zeigte, begann die lange Periode des Rückzugs ins Privatleben derer, die angeblich die herrschende Klasse im Sozialismus war: der Arbeiterklasse. Zwei informelle Slogans drücken die Stimmung des Volkes plastisch aus: Freitag ab eins macht jeder seins und Privat geht vor Katastrophe. Man richtete sich ein in den Nischen der sozialistischen Gesellschaft, die Uwe Tellkamp ausfürhlich in seinem Roman „Der Turm skizziert. Die Intellektuellen teilten sich auf in staatstragende Gläubige und kritische Moralisten, die gegen den Stachel löckten, wo immer es möglich war. Das Volk scherte sich weder um die einen noch um die anderen. Es feierte (trank) viel, privat mit Freunden und Familie und halbprivat im Arbeitskollektiv. Es werkelte in Wohnung und Garten, fuhr im Urlaub an die Ostsee zum FKK-Strand und in den Harz, manchmal auch an den Balaton oder nach Leningrad, frönte einem liberalen bis libertären Liebesleben, genoß die kleinen aber bedeutenden Freiheiten der Zivilgesellschaft.

Nach dreißig Jahren war der Burgfrieden am Ende. Mit der Biermann-Ausbürgerung und dem Weggang zahlreicher Schriftsteller bzw. deren Rauswurf aus dem Schriftstellerverband wurde die Spitze des Eisbergs sichtbar: die Partei- und Staatsführung hatte in allen Bevölkerungsschichten ihren Kredit verspielt. Die Forderungen nach mehr Demokratie und bürgerlichen Freiheiten auf der einen, mehr und besseren Konsumgütern auf der anderen Seite fanden ihren Weg aus den Wohnzimmern heraus. An eine offene, körperliche Konfrontation mit den anachronistischen Machthabern dachte kaum jemand. Prag 1968 blie als historische Zäsur immer im Hinterkopf und gesellschaftlichen Unterbewußtsein. Nach zehn Jahre der Agonie und der Ausreise vieler, die Geduld und Hoffnung auf baldige Verbesserung verloren hatten, wuchs – mit den demokratischen Reformen in der Sowjetunion im Rücken – der Wille zum Widerstand der vielen anderen (mit Ausnahme der etablierten Intelligenzia). Mit ihren friedlichen Demonstrationen brachten sie das Regime zu Fall.

Das Vertrauen der ehemaligen DDR-Bürger in den Westen und dessen moralische, soziale und ökonomische Überlegenheit, bekam im Zuge des Wütens der Treuhandgesellschaft erste Risse. Dem Konsum war nun – in Abhängigkeit vom Geldbeutel – zwar kaum noch Grenzen gesetzt, und die bürgerlichen Freiheiten, sowie die sanierten Häuser und verbesserte Infrastruktur waren auch nicht zu verachten, aber die Entwertung der DDR-(Arbeits-)biographien durch die westdeutschen „Aufbauhelfer“ und der fehlende Einfluß ostdeutscher Fachleute (auf welchem Feld/Gebiet/ Schlachtfeld auch immer) auf die Gestaltung der neuen Verhältnisse, sowie die ersatzlose Streichung sehr vieler Arbeitsplätze und damit der Verlust der Familie „Betrieb“ führten zu mehr oder weniger offen gezeigtem Unmut und Enttäuschung. 

Staatsverachtung als bewährtes Mittel

Mit den westdeutschen Parteien identifizierten sich immer weniger Menschen. Offene Proteste gegen Werksschließungen und später gegen die Hartz-IV-Reformen, die besonders viele Ostdeutsche zu Abgehängten degradierten, blieben wirkungslos. Eine erste Ostalgie-Welle setzte ein. Die Interessenvertreterin der Ostdeutschen, die PDS, wurde von den westdeutschen Politikern und Journalisten an den Katzentisch verwiesen und als quasi-stalinistisch denunziert. Sie gewann dennoch an Zulauf. Und die ostdeutsche Bevölkerung wurde vom westdeutschen Establishment, bis auf einige gefeierte Ausnahmen, wie tumbe, undankbare, demokratieuntaugliche Provinzler behandelt.

Man griff im Osten wieder nach der bewährten Verfahren der Staatsverachtung: die da oben wollen nie unser Wohl – wir ziehen uns ins Privatleben zurück und überlassen die Macht sich selbst, eine Art Verweigerung der (Staats-) Bürgerschaft. Als dann aber die Politik (einschließlich der Linkspartei) übergriffig wurde und den einzig ihnen verbliebenen Wohlfühlraum, das lokale Areal der Eingeborenen, mit Migranten aus sehr fernen Kulturen durchsetzte, deren Sitten und Gepflogenheiten mit ihren eigenen kollidierten, als Ruhe und Sicherheit durch ansteigende Gewalt und Kriminalität gefährdet wurden, begaben sich viele in den politischen Raum zurück. Gegen den Kapitalismus war kein Kraut gewachsen, aber gegen Entscheidungen von Politikern, die sich nicht zwangsläufig aus der Systemlogik ergaben, mußte man protestieren: Aus dieser Stimmung heraus entstanden erste Protestbewegungen wie beispielsweise „Pegida“. Als diese Initiative vom westdeutschen Establishment als fremdenfeindlich, rassistisch und rechtsradikal denunziert und ihnen kein Dialog mit der Macht auf Augenhöhe zugebilligt wurde, als sich eine Partei gründete, die ihre Forderungen scheinbar wahrnahm, als ab 2015 das Gegenteil von dem passierte, was sie gefordert hatten und sie das Gefühl bekamen, daß ihnen nach allen Verlusten seit der Wende auch noch ihre Heimat genommen werden sollte, schlug die Verbitterung vieler Ostdeutscher in Wut um.

Nach dreißig Jahren war wieder die Zeit des Widerstandes gekommen. Massenhaft auf die Straße zu gehen wie 1989 nützte in dieser Staatsform nichts. Die einzige Form, in der man sich wehren konnte und seine Würde wenigstens in Ansätzen wiedergewinnen konnte, war die Rache mit dem Stimmzettel. Die Westdeutschen würden sie sowieso nicht verstehen, gute Worte und Bitten konnte man sich nunmehr sparen – also schlug man zurück, und zwar auf eine Weise, die der politischen Klasse wirklich weh tat, nämlich indem man eine rechte, eine von ihr total verhaßte Partei wählte. Natürlich würden dafür die Ostdeutschen als ganzes Volksteil des Rechtsradikalismus und der unverarbeiteten Vergangenheit geziehen, aber darauf kam es jetzt nicht mehr an. Die Ohnmacht mußte wenigstens ein Stück weit in Macht verwandelt werden. Und da war die AfD so gut wie jede andere Partei, die dem westdeutschen Politikbetrieb ans Bein pinkelte. Sollten sie sich die Zähne ausbeißen an den renitenten Sachsen und wer sonst noch mitzog beim Lehre-Erteilen. Jetzt würden sie selbst den Teufel wählen.

Idealisierung des Alltags

Und sie holten sich ihre Geschichte zurück: Sie hatten in den 90er Jahren aufgrund des offensichtlichen Versagens ihres Systems bereitwillig mitgemacht, als der Sieger die Geschichte schrieb und diese jahrelang qua seiner Deutungshoheit auf die Machenschaften der Stasi reduzierte. Sie hatten das Spielchen „Such den Verräter“ mitgespielt. Aber: Jeder Versuch, die Vergangenheit mit Formeln wie ,Unrechtsstaat‘ oder ,totalitäres System‘ endgültig in Beschlag zu nehmen, ist zum Scheitern verurteilt. Die Leute lassen sich einfach nicht vorschreiben, wie sie was auf welche Weise zu erinnern haben.“

Inzwischen ist vielen ehemaligen DDR-Bürgern klar geworden: Es war nicht nur nicht alles schlecht – es war etliches, möglicherweise Entscheidendes besser gewesen in ihrem alten Leben.

Manches, was früher selbstverständlich war, keiner besonderen Würdigung wert, wird im Rückblick wertgeschätzt, mitunter idealisiert: die feste Stelle, das Aufgehobensein im Kollektiv, der soziale Zusammenhalt im Allgemeinen.

Wolfgang Engler

Nach dreißig Jahren wähnen sich viele ehemalige DDR-Bürger vom Regen in die Traufe gekommen. Je gravierender Unsicherheit, Unbeständigkeit und die Zumutungen durch die politisch-mediale Klasse (nicht nur Deutschlands, sondern auch der EU) werden, desto mehr definieren sie sich als „Ostdeutsche“, besinnen sich auf ihre Erfahrungen und werfen die Scham über ihre Herkunft ab. Und sie gewinnen neues, trotziges Selbstvertrauen.

Aus Anlaß der Feierlichkeiten zum dreißigsten Jubiläum der “friedlichen Revolution“ gaben sich einige Vertreter der politischen Klasse, insbesondere Westdeutschlands, nachdenklich: man habe den Verwerfungen im Leben fast aller Ostdeutscher zu wenig Aufmerksamkeit gezollt, sie nicht ernst genug genommen, habe es an Sensibilität fehlen lassen. Der gemeine Ossi hört es – besänftigen dürfte es ihn nicht mehr.

Literatur:

Engler, Wolfgang/Hänsel, Jana: Wer wir sind: Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein. Aufbau Verlag Berlin, 2018

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