Juli Zeh: Küchenpsychologie statt Gesellschaftskritik

Der jüngste Roman der Vielschreiberin Juli Zeh beginnt verheißungsvoll: ein gehobener Mittelständler, Mitte dreißig, Großstädter, Vielarbeiter, Ehemann und Vater zweier kleiner Kinder, ist auf typische Weise überfordert. Seit geraumer Zeit wird er anfallartig von einem Dämon heimgesucht, den er „ES“ nennt.

Juli Zeh, Neujahr.

Sein Herz stolpert und rast in solchen Episoden und muß mit sofortigen Laufübungen am Explodieren gehindert und wieder zur Ruhe gebracht werden. Man hätte an diesem Punkt offen lassen können, um was für eine Art von Phänomen es sich hierbei handelt und es – erzählend – umkreisen und langsam zur Strecke bringen können. Nicht so Zeh: nur ein paar Seiten später kann sie nicht mehr an sich halten und verrät dem Leser den Namen des Dämons, internetrecherchiert vom Antihelden selbst: Panikanfälle sind es, die ihn heimsuchen. Physisch total gesund. Burnout, tippt seine Frau.

Na gut. Auch an dieser Stelle hätte aus dem Text noch ein spannendes Gesellschaftsporträt werden können, der uns allen möglicherweise viel zu sagen gehabt hätte. Geht es doch bei dem geschilderten Ausgangsszenario um eine repräsentative gesellschaftliche Konstellation in der städtischen westlichen Welt, die die Fragen nahelegt: Wie gelingt ein Familienleben in einer neoliberalen Turbowelt auf dem Weg zur Durchtechnisierung?

Wie kommt ein halbwegs glücklicher Privatmensch dazu, in dieser Versuchsanordnung in Panik zu verfallen? Was machen solche Bedingungen mit dem Einzelnen? Was passiert da – massenhaft – mit den Menschen der westlichen Gesellschaften, in denen Jahr um Jahr ansteigende Zahlen psychischer Erkrankungen registriert werden? Wie sieht die Vermittlung von Teil und Ganzem konkret aus? Der Mann ist „entfremdet“ – so viel ist klar. Aber von wem und wie und wodurch? Und wie geht das alles weiter?

Aber Juli Zeh scheint diese, die exemplarische, Dimension überhaupt nicht zu interessieren. Sie weicht aus und schreibt nicht das Buch, das wirklich gebraucht würde. Stattdessen erzählt sie (nein, das wäre schon zu viel gesagt: sie konstruiert aufdringlich und schildert, und letzteres kann sie wirklich gut) die Geschichte eines „Einzelfalles“ und begibt sich auf die breitgetretenen Wege literarischer Kinder- und Küchenpsychologie: Ihr Protagonist wurde in der Kindheit durch zeitweise Vernachlässigung traumatisiert. Mehr Zeitgeist geht nicht.

Traumatisiert ist heute jeder, der was auf sich hält. Auf seelische Verletzungen in der Kindheit, ja angeblich sogar im Erwachsenenalter, können heutige Menschen dem Anschein nach nicht anders reagieren als mit Traumen. Inflationierung, Popularisierung und damit vollkommene Entwertung einer ehemals wissenschaftlichen Diagnose. Und Juli Zeh, die große deutsche Nachwuchsintellektuell, mittenmang. Der Leser kann von Glück reden, daß der Junge nicht auch noch sexuell mißbraucht wurde. Dann wäre das Klischee perfekt gewesen.

Wer liest so etwas? Liebhaber von „ein-schreckliches-Familiengeheimnis“ – Literatur, mittelspannend erzählt? Der gebeutelte Mensch von heute erhofft sich von der Gegenwartsliteratur anderes: Tieferes, Originelleres, Radikaleres. Wann haben wir endlich unseren eigenen Houellebecq?

Juli Zeh: Neujahr. Luchterhand 2018, 190 Seiten.

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