„Der Sieg der Aufklärung ist absolut“ – Im Gespräch mit Alexander Grau

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Wir leben in einer gespaltenen Gesellschaft. Das ist allerdings kein Zufall, sondern die logische Konsequenz der aggressiven Politisierung und Moralisierung nahezu jeden Lebensbereiches. Dies alles sei jedoch kein Hinweis auf das Scheitern der Aufklärung, sondern im Gegenteil ein Beleg für ihren Triumph, meint der Philosoph und Buchautor Alexander Grau. Ein Gespräch über Moral, Kulturpessimismus und ein überfordertes Individuum in der modernen Massengesellschaft.

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Sehr geehrter Herr Alexander Grau, wann haben Sie sich das letzte Mal gründlich über etwas aufgeregt?

Zuletzt vermutlich im Straßenverkehr. Wenn ich es eilig habe und mein Vordermann – oder meine Vorderfrau – fahren nicht zügig an oder bummeln, dann regt mich das wahnsinnig auf.

War diese Aufregung sachlich berechtigt, rational begründbar?

Nö.

Ungerechtfertigte Aufregung begegnet einem heute öfter als einem lieb ist. Wenn man einen Blick auf die zeitgenössische Medienwelt wirft, bekommt man sogar den Eindruck, die Menschen hierzulande haben regelrechte Freude an ihrer Empörung gefunden und diese zu einem Dauerzustand erhoben. Wo liegt für Sie die Trennlinie zwischen einer notwendigen Moral für den Einzelnen und einer schädlichen Hypermoral?

Ob die Menschen mehr Freude an Empörung haben, weiß ich nicht. Wenn man draußen auf der Straße ist, beim Bäcker, im Supermarkt, im Café, dann wird sich dort ja nicht mehr empört als früher. Worüber man sich hingegen deutlich schneller echauffiert, sind gesellschaftspolitische Differenzen, vorzugsweise in den sozialen Medien. Der einfache Grund: Plötzlich prallen Sozialmilieus aufeinander, die sich in der analogen Welt nie begegnet wären. Hinzu kommt, dass sich die Funktion von Moral verändert hat. Früher bezog sich Moral auf die individuelle Sittlichkeit. Moralisch war, wer ordentlich, sittsam und enthaltsam lebte. In dem Maße wie diese persönliche Sittlichkeit sich liberalisierte, ist im Gegenzug der Bereich des Gesellschaftspolitischen moralisiert worden. Und das verstärkt die konfrontative Situation.

Sie beschreiben die Hypermoral als einen Mechanismus der spätmodernen Massengesellschaft. Zudem kann man ihr kaum mehr entkommen, denn auch auf die privaten Bereiche greift sie über und zerstört gelegentlich sogar langjährige Freundschaften. Ist die tiefe, politische Spaltung der Gesellschaft die logische Konsequenz dieses übersteigerten Moralverständnisses?

Nicht des übersteigerten Moralverständnisses, sondern der Auslagerung der Moral vom privaten ins politische und – auch wichtig – der zunehmenden Heterogenisierung der Gesellschaft. Je heterogener Gesellschaften werden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit von Konflikten. Hinzu kommt, dass diese Pluralität sich im öffentlichen Diskurs nicht wirklich abbildet. Auch das führt zu Konflikten.

„Wer meint, wir könnten zu einem Kulturkonzept des 19. Jahrhunderts zurück – so attraktiv dies auch scheinen mag –, macht sich lächerlich.“

Glauben Sie an die Möglichkeit der Wiederherstellung eines Verständigungsraums?

Ich bin skeptisch. Warum sollten zunehmend heterogene Gesellschaften plötzlich einen gemeinsamen Verständigungsraum finden? Hinzu kommt, dass wir im Zuge der sozialen Umformungsprozesse seit dem 19. Jahrhundert immer antiautoritärer geworden sind. Die Bereitschaft, sich unterzuordnen – sei es der Mehrheit oder der demokratisch gewählten Regierung – hat deutlich abgenommen. Das gilt, glaube ich, für beide politischen Großlager, aber auch für viele kleine politischen Probleme auf unterster Ebene. Verständigungsräume setzen eben Unterordnung im Namen der Verständigung voraus. Das sich selbstverwirklichende Individuum will sich aber nicht unterordnen.

Bis vor einigen Jahrzehnten galt die Kultur als ein möglicher Rückzugsort. Doch auch das einende Band der Kultur, das ein Zentrum inmitten aller gesellschaftlicher Ausdifferenzierung bildete, wurde aufgelöst und in die Sphäre des Politischen gezogen. Ist die Folge ein kulturelles Vakuum?

Ob Vakuum das richtige Bild ist, weiß ich nicht. Auf jeden Fall fragmentieren sich Kulturen. Sie verlieren ihre Funktion als umfassendes Normierungssystem. Am Ende steht eine postkulturelle Gesellschaft, die – anders als Kulturgesellschaften – ihr Selbstverständnis nicht mehr aus dem Ewigen und Unverrückbaren bezieht, sondern im Gegenteil aus Innovation und Veränderung. Innovationsgesellschaften sind notwendig destruktiv, also nicht kulturfähig.

Sie konstatieren: »Gesellschaften ohne Kultur sind möglich«. Doch leben wir wirklich in einer Gegenwart ohne Kultur? Es scheint sich doch eher so zu verhalten, dass die Kultur mit dem Argument der „Unterdrückung“ ständig gegen sich selbst gewandt wird. Was bleibt, wenn sich dieser Antagonismus schlussendlich aufgelöst hat?

Kulturen standardisieren, stabilisieren und formatieren. Spätmoderne Gesellschaften beziehen ihr Selbstverständnis aus der permanenten Transformation. Für solche Gesellschaften ist Kultur im klassischen Sinne nur hinderlich. Sie widerspricht ihrer Logik. Am Ende steht ein austauschbares, globales Sammelsurium von Folklore, aus dem sich jeder bedient. Wer meint, wir könnten zu einem Kulturkonzept des 19. Jahrhunderts zurück – so attraktiv dies auch scheinen mag –, macht sich lächerlich.

Verschwindet mit den klassischen kulturellen Symbolen wirklich auch der Drang des Menschen, eine Welt zu formen, die Sinn hat? Hier könnte man ja anknüpfen und sagen: Kultur wird es immer geben, lass uns neue Formen finden!

Zumindest in den westlichen geprägten Kulturen, dem Globalen Norden, hat sich die Einsicht verfestigt, dass es keinen umfassenden Sinn gibt. Gott ist tot und wird allenfalls als Karikatur wieder auferstehen. Plausible Sinnstrukturen findet der spätmoderne Mensch nur noch im persönlichen Lebensentwurf, einer Art Vulgärexistenzialismus. Ich möchte aber gar nicht ausschließen, dass sich in hundert Jahren tatsächlich so etwas wie eine homogene Weltkultur formiert hat. Der Verlust an Vielfalt wäre gewaltig, aber es läge in einer gewissen Logik.

„Man kann das ganze Projekt Abendland auf diesen einen Gedanken reduzieren: das autonome Individuum.“

Sie skizzieren, dass sich in diesem kulturellen Vakuum eine neue Elite gebildet habe, die ihr ökonomischen Kapital wiederum in Multiplikatoren investiert, die aus ihrer Sicht das richtige Weltbild vertreten. Das Resultat ist, dass viele Menschen sich von kulturellen Normen gesteuert fühlen, die sie nicht vertreten. Eine Kritik an diesen Eliten trägt dementsprechend unweigerlich Züge eines Kulturkampfes. Kann es überhaupt noch eine moderate Position in der Mitte geben?

Zugegeben, das trägt Züge eines Kulturkampfes. Es ist ein Kulturkampf von oben. Im Vokabular David Goodharts: Die Welt der Somewheres wird durch die globalen Anywheres in Frage gestellt und deligitimiert. Ist eine moderate Position vorstellbar? Ich denke, ja. Das liegt zunächst daran, dass viele Anywheres soziologisch nichts anderes sind als ehemalige Somewheres: aufgestiegenes, beruflich erfolgreiches Kleinbürgertum. Die sind noch empfänglich für die Sichtweise der Anderen – wenn man sie nicht verprellt.

Wenn wir auf diese tiefe gesellschaftliche Spaltung hin und in Anbetracht planetarischer Ordnungen eine grenzenlose Überschätzung des Individuums erleben, müsse dann nicht von einem abermaligen Scheitern des aufklärerischen Projekts trotz der Neuen Medien die Rede sein?

Das mit der grenzenlosen Überschätzung des Individuums würde ich mir nicht zu eigen machen. Aus einem einfachen Grund: Das autonome Individuum ist – vermittelt durch antike Philosophie und Christentum – der großartigste und erhabenste Beitrag Europas zur Kultur der Menschheit. Ohne ihn kein Dante, kein da Vinci, kein Bach oder Beethoven, kein Dürer oder Vermeer, nichts. Wahrscheinlich kann man das ganz Projekt Abendland auf diesen einen Gedanken reduzieren: das autonome Individuum. Er unterscheidet Europa von allen anderen Kulturen. Und nein: Die Aufklärung ist nicht gescheitert. Mehr noch: Ihr Sieg ist absolut. Das ist ja das Problem. Wir beobachten soeben, wie Aufklärung aufgrund ihres Triumphes in ihr Gegenteil umzuschlagen droht. Das ist das wirklich bedrohliche. In diesem Moment dämmert uns vielleicht, dass am Gipfel der Aufklärung die Einsicht in unser notwendiges Scheitern steht. Ich vermute, dass es zu diesem Scheitern nie eine ernsthafte Alternative gab.

Wie geht es weiter, worauf können wir unsere Hoffnung setzen?

Lasciate ogni speranza, heißt es in der Göttlichen Komödie.

Herr Alexander Grau, vielen Dank für das Gespräch.

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Alexander Grau ist promovierter Philosoph und freier Autor. Zuletzt von ihm erschienen sind «Politischer Kitsch. Eine deutsche Spezialität» (2019), «Kulturpessimismus. Ein Plädoyer» (2018) und «Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung» (2017). Weitere Informationen unter: alexandergrau.de.

Einen sehr lesenswerten Text von Alexander Grau über die Lebenswelt der neuen Eliten finden Sie es hier.

 

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