Rolf Peter Sieferle: Hypermoralismus und Willkommenskultur

Es lohnt, Rolf Peter Sieferle zu lesen – gerade für den Konservativen, der gemeinhin latent fassungslos vor vielen politischen wie weltanschaulichen Entwicklungen der bundesdeutschen Gegenwart steht. Als Hochschulprofessor gesättigt mit dem Bildungskanon des akademischen Nachkriegsmilieus, wendet er dessen kritisches Instrumentarium nicht nur, wie es der intellektuellen Mode entspricht, auf das „alte Europa“ an, sondern auch auf die Entwicklungen der Gegenwart. Sieferle gelangt so zu einer substanziellen Gegenwartsanalyse, die für eine konstruktive Kritik sehr viel mehr zu leisten vermag als der oft gehörte hilflose Verweis auf den „gesunden Menschenverstand“ oder gar dem Aufwärmen von Begriffen und Thesen der Weimar-Konservativen der 1920er Jahre, deren Radikalität oft nur notdürftig ihr ebenso hilfloses Aus-Der-Zeit-Gefallensein kaschiert.

Selbstauftrag zur Rettung der Menschheit

Sieferle dagegen hat nicht zuletzt auch die spezifischen Verwerfungen der Nachkriegsgeschichte, der bundesdeutschen Nachkriegsmentalität direkt vor Augen, der fundamentale Bruch vor allem, den die Deutschen 1945 erleben und den Charakter der deutschen Gesellschaft grundlegend verändern – diesen erfährt, durchlebt und durchdenkt er als Angehöriger seiner Generation, während Liberalismuskritiker wie Carl Schmitt oder Ernst Jünger noch eine vollkommen andere Gesellschaft beschreiben und damit eine politisch-gesellschaftliche Kritik, die auf ihrer Rezeption beruht, in der Regel nur in überforderte Fundamentalkritik münden kann, sofern es um die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Phänomenen wie den Erfolg Angela Merkels oder den Aufstieg der Grünen geht.

Rolf Peter Sieferle, Epochenwechsel, Manuscriptum.

In diesem Sinne soll hier keine umfassende Werkschilderung versuchen, sondern vielmehr den Blick auf ein einzelnes, aber doch hochgradig bezeichnendes Phänomen lenken: die deutsche Willkommenskultur und dem damit verbundenen Begriff von Humanitarismus, von Moral und Verantwortung. Seit 2015 weisen Kritiker auf die Sinnlosigkeit dieser Politik, sogar bei Anerkennung ihrer eigenen Prämissen, hin. Von 20 Millionen Syrern sind ungefähr 10 Millionen auf der Flucht, davon hat Deutschland in einem beispielslosen Kraftakt, dem kein anderes europäisches Land auch nur annäherungsweise sich anschließen wollte, ca. 500 000 aufgenommen. Das sind, in Zahlen ausgedrückt: 5 Prozent. Diesen 5 Prozent, zu denen aufgrund der weiten, teuren Anreise nicht etwa die Verzweifelten, Armen oder Kranken zählen, sondern im Gegenteil mehrheitlich die wohlhabende, syrische Oberschicht, die vorher bereits jahrelang im Libanon, der Türkei oder Jordanien ein aufgrund der eigenen Vermögensverhältnisse relativ akzeptables Leben führte, ermöglicht nun die deutsche Gesellschaft ein paradiesisches, neues Leben in einem der reichsten Länder der Welt.

Wohnung, Lebensunterhalt, Umschulung, Ausbildung, Sprachkurs – alles komplett vom deutschen Staat finanziert. Ein Traum für die reiche Elite, während 95% der syrischen Flüchtlinge weiterhin vielfach in Armut und Verzweiflung in unterfinanzierten Flüchtlingscamps dahinsiechen – was aber eigenartigerweise kaum von einem deutschen Journalisten thematisiert zu werden scheint. Im Gegenteil: ein Sturm der Empörung bricht nur los, wenn innerhalb des deutschen Binnenkosmos beispielsweise ein Zahnarzt keine kopftuchtragende Muslima einstellen will. Falls dagegen in der Türkei arme syrische Familien ihre Töchter an türkische Polygamisten als Zweit- oder Drittfrauen verschachern müssen, um über die Runden zu kommen (vom Geld für einen Schlepper nach Deutschland können diese Familien nur träumen), bleibt das lediglich eine Randnotiz, obwohl die Schicksale dahinter weitaus schrecklicher sind.

Es wäre keine große Herausforderung gewesen, hätten die Deutschen ihre Milliarden und ihre fanatischen NGO-Aktivisten in die Flüchtlingslager des Nahen Ostens geschickt, um dort die wirkliche Unzahl an Vertriebenen, an Alten, an Kranken, an Armen bis Kriegsende menschenwürdig zu versorgen. Daß diese oder vergleichbare Optionen nicht einmal diskutiert wurden, obwohl es objektiv der klügere Ansatz wäre, ist zunächst einmal durchaus rätselhaft.

Darüberhinaus, was hier nicht unbeachtet bleiben soll, weil es durch seine strukturelle Ähnlichkeit frappiert: auch die deutsche Klimarettungssstrategie wiederholt aktuell das Handlungsschema der Flüchtlingskrise: durch einen innenpolitischen Kraftakt, dessen undurchdachte Destruktivität durch Beschwörungen des Menschheitswohls aufgewogen wird, will ein winziges Land das Weltklima retten. Die Prozentzahlen sind sogar vergleichbar: wo in der „Flüchtlingskrise“ ca. 5% der syrischen Flüchtlinge aufgenommen wurden, arbeiten sich die Deutschen in der Klimakrise nun wacker an den von ihren selbst verursachten 4% des weltweiten CO2-Ausstoßes ab – im stolzen Bewusstsein, damit zur Rettung der Menschheit beizutragen.

Diese fast schon schizophrene Verschränkung zwischen einem global-solidarischen Anspruch, einer hohen, universellen Moral und der Fixierung auf wirkungslose, dafür hochemotional aufgeladene Binnenkonzepte ist nur schwer erklärbar. Doch in seinem bereits 1994 erschienen Werk „Epochenwechsel“ bietet Rolf Peter Sieferle dafür einen Erklärungsansatz. Denn diese Absurdität ist nicht neu, Sieferle selbst erlebte sie bereits Anfang der 90er bei 2 mittlerweile historischen Krisen: dem Balkankrieg und dem Irakkrieg.

„Welche Probleme den Deutschen diese Mentalität bereitet, wird in dem sprachlosen Entsetzen erkennbar, das sie ergreift, wann immer der Große Behemoth das Haupt erhebt, zuletzt anlässlich des Golfkriegs und der jugoslawischen Sezessions- und Anschlußkriege. Sofort artikuliert sich das Bedürfnis, in solchen Konflikten nicht das Element politischer Gegensätzlichkeit zu sehen, sondern sie in Begriffe der Sonntagsschule zu übersetzen. Vor allem müssen die Böcke von den Schafen geschieden werden, man muss sich zumindest mental auf die Seite der guten gegen die bösen Buben stellen. Es kam dabei zu recht amüsanten Definitionsquerelen: Die einen sahen in Saddam Hussein nichts anderes als einen „zweiten Hitler“, also eine Reinkarnation des Bösen schlechthin. Die anderen verdächtigten eher die Alliierten der Schlechtheit, „Blut für Öl“ einsetzen zu wollen, ohne allerdings den konsequenten Schluß zu ziehen, im Namen des Antiimperialismus offen Partei für denjenigen zu ergreifen, der sich bereits (fast) ohne Blutvergießen in den Besitz des Öls gebracht hatte. Das Morallager kippte jedoch dann sofort in reine larmoyante Neutralität um, als Saddam Hussein den propagandistischen Fehler beging, mit Hilfe einer Ölpest unschuldige Seevögel zu ersticken. Mit einer solchen Bestie wollte man nun nichts mehr zu tun haben. Also ließ man die weißen Laken der bedingungslosen Kapitulation wehen.

Auf die Spitze der Absurdität wurde dieses Verfahren angesichts des neuen Balkankriegs getrieben. Einerseits schlug das Herz jedes guten Menschen für die Opfer dieses grausamen Nationalitätenkonflikts, und man machte sich fieberhaft daran, die „wahren Schuldigen“ zu identifizieren. Sobald man diese in den Serben festgestellt zu haben glaubte, wurde sogleich die Forderung laut, den von ihnen bedrohten Unschuldigen zu „helfen“. Wie hilft man aber einer Partei innerhalb eines Partisanen- und Bürgerkriegs? Beschwörungen von „friedlichen Lösungen auf dem Verhandlungsweg“ wiederholen zwar das Erfolgsrezept der bundesrepublikanischen Außenpolitik; innerhalb einer Wirklichkeit aber, in der für die Bürgerkriegskombattanten offensichtlich der Krieg nicht das größte aller Übel ist, sondern weiterhin als legitime Ultima Ratio der Politik gilt, ist die Behauptung, Krieg sei kein Mittel der Politik, einfach nur sachlich falsch, wenn auch normativ verständlich. Die Ultima Ratio der „humanitären Hilfe“ müsste sich somit als militärische Intervention herausstellen.

Man konnte nun in der Tat beobachten, daß gleichzeitig eine solche die Streithähne trennende Intervention gefordert und eine Beteiligung Deutschlands daran ausgeschlossen wurde. Hier handelte es sich zunächst um eine bloße Reprise alter bundesrepublikanischer Denkgewohnheiten: Für den Ernstfall sind eben die Siegermächte zuständig. Deutschland selbst geht von der Erfahrung aus, daß Kriege nur unnötige Opfer kosten und schließlich in einer Niederlage enden. Es begnügt sich also damit, moralische Postulate aufzustellen, Geschäfte zu machen und publizistisch mit fremden Säbeln zu rasseln.“

Dabei belässt Sieferle es natürlich nicht bei dieser fast schon ans Satirische grenzenden Schilderung, sondern forscht in „Epochenwechsel“ der Mentalitätsgeschichte des zeitgenössischen Deutschland nach.

Nationalismus und moralischer Universalismus

Sieferle denkt die Nation von seiner Grenze, seiner Souveränität, seiner Notwendigkeit zur Selbsterhaltung her, die ihm sowohl politischen wie gesellschaftlichen Stil zu generieren scheinen. Nach Kriegsende findet sich Deutschland allerdings in einer paradoxen Situation wieder: es ist nicht länger souverän, und da die Siegermächte das Land in zwei Protektorate aufgeteilt haben und hier nun ihren Konflikt des „Kalten Krieges“ austragen, sind sie gar nicht instand gesetzt, die politische Ebene zu betreten, worin Anstrengungen zur Selbsterhaltung auf sich genommen werden müssten.

„Große politisch-militärische Funktionsbereiche fielen jetzt aus, da ihre Definition jenseits der Entscheidungsgewalt der Bundesrepublik lag. Der Stil des Gemeinwesens wurde entmilitarisiert und entpolitisiert. […] Die politischen Großstukturen, die Konturen der Kräfteverteilung, des militärischen Gleichgewichts und der Sorge um die globalen Einflußsphären lagen weit jenseits der Disposition deutscher Politiker. Die Politik konnte zur reinen Innenpolitik werden, zur Institutionalisierung und Ritualisierung von Verteilungskämpfen, der von größeren, nur indirekt beeinflußbaren Kräften gesetzt und garantiert war. Zu diesem Muster paßte die weitverbreitete Überzeugung, Außenpolitik sei nichts anderes als ein Reflex der Innenpolitik.“

Gleichzeitig führt die Aufarbeitung des Dritten Reichs zu einer umfassenden moralischen Neu-Definition, was durch den Import angloamerikanischer Politikstile, die im Gegensatz zur deutschen Politiktradition den Staat eher als Freiheitsbedrohung denn als Stabilitätsgaranten betrachten, weiter vertieft wird.

„Macht- und Außenpolitik gerieten in der intellektuellen Szene zunehmend in den Ruch des Unmoralischen. […] Es bildete sich eine charakteristische Komplementarität von systemischer Struktur der „bürgerlichen Gesellschaft“ und dem grenzenlosen Ausschweifen des emanzipierten, auf Selbstverwirklichung setzenden Individuums, das sämtliche Ansprüche einer auf Disziplin und Gemeinwohlorientierung verpflichtenden politischen Tugend empört von sich wies. […] Diese Entpolitisierung im Schatten der beiden einander feindlich gegenüberstehenden Hegemonialmächte hat sich in einer merkwürdigen Karriere des Universalismus  niedergeschlagen, das in der Bundesrepublik zum unbefragten, selbstverständlichen Daseinsprinzip werden konnte.“

Im letzten Satz nun formuliert Sieferle eine eigenwillige, dialektische Kehre, die er im bundesrepublikanischen (es ist nur der Westteil, den Sieferle betrachtet – das sollte, auch vor dem Hintergrund aktueller Ost-West-Polarisierungen, in Betracht bleiben) Charakter entdeckt. Sei es Dialektik, sei es psychopathologische Sublimierung, doch: umso stärker die politische Sphäre entpolitisiert wird, desto mehr entdeckt der Deutsche den Universalismus – wo ein Eigenes im Inneren und Äußeren aufgrund der durch Besatzung, Liberalismus und Kaltem Krieg erzwungenen Entpolitisierung nicht mehr möglich ist, beginnt der Westdeutsche seinen politischen Tatendrang auf die Ebene eines allgemeinen moralischen Universalismus zu heben, seine Ideale auf die ganze Menschheit zu projizieren.

„Dieser Universalismus spezifisch deutscher Prägung hat zwei Facetten, die einander feindlich gegenüberstehen, aber insofern Gemeinsamkeit besitzen, als beide auf der Prämisse beruhen, von wirklichen politischen Entscheidungen entbunden zu sein: Ökonomie und Protest.“

Die ökonomische Seite ist bekannt, und wird mittlerweile als „Globalisierung“ und „Neoliberalismus“ vielfach diskutiert. Hier kann uns Sieferle nichts Neues erzählen. Doch wenn er beginnt,  den „Protest“ zu schildern, werden wir einer Aktualität gewahr, die hellhörig macht.

„Wie der Warenexporteur nur den abstrakten, kaufkräftigen Konsumenten sieht, so sieht der moralische Protestler nur den abstrakten Menschen jenseits aller intermediären, einbindenden Gewalten. Dieser Moralismus ist insofern unpolitisch, als er die Welt unterscheidungslos mit seinen abstrakten Forderungen überzieht. Er kann dies umso besser, als er insgeheim weiß, daß seine grenzenlosen Forderungen ohne Konsequenz bleiben werden. Er kann daher buchstäblich „alles“ wollen: Frieden, Wohlstand und Glück für jeden, und zwar hic, nunc und subito. Da der Protestierende fern von jeder wirklichen Macht ist, kann er das klassische, gesinnungsethische Programm entfalten. Für die politische Kultur Westdeutschlands hatte dies aber schwerwiegende Konsequenzen: In dem Maße, wie seine Politiker sich in einem Rahmen bewegten, der für sie die Möglichkeit folgenschwerer politischer Entscheidungen ausschloß, wanderten Elemente des abstrakten gesinnungsethischen Moralismus auch in die Staatspolitik ein.“

Die Bundesrepublik, die Sieferle hier beschreibt, zeichnet sich durch ein charakteristisches Nichtstun aus, in dessen Schatten eine verwinkelte Kunst moralischen Appellierens entwickelt wird, einer dem Profanen enthobenen Priesterkaste ähnlich, die als eifriger Mahner stolz die Verinnerlichung der Lehren aus der Vergangenheit präsentiert, und daraus ein post-heroisches, avantgardistisches Elitebewusstsein zieht. Auch auf die Rolle des Nationalsozialismus, dessen Aufarbeitung auf quasi-religiöse Weise ein neues Koordinatensystem von geradezu kosmischer Unbedingtheit erzeugt, worauf die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft sich nun formiert, wertet und identifiziert, weist Sieferle hin:

„Jede Geschichtskonstruktion ist das Werk einer Gegenwart, die damit bestimmte ideologische Ziele verfolgt, nach Sinn und Orientierung sucht oder konkrete Freund-Feind-Verhältnisse feststellen möchte. […] „Auschwitz“ bildet insofern einen Mythos, als es sich bei dem in diesem Namen evozierten Massenmord an den europäischen Juden um eine Wahrheit handelt, die der Diskussion entzogen ist. Dadurch wird inmitteln einer moralisch fluktuierenden Welt ein neuer archimedischer Punkt fixiert, der die Funktion eines sinnstiftenden Mythos gewinnen kann.“

„Als Holocaust steht der nationalsozialistische Völkermord für einen fundamentalen und extremen Verstoß gegen das Prinzip des humanitären Universalismus. Die Ultima ratio einer Leugnung des Prinzips universaler Menschenrechte wird sichtbar, wenn ein Teil der Menschheit einen anderen Teil der Menschheit zu Un-Menschen erklärt und an dessen physische Ausrottung geht. […] „Auschwitz“ oder „Hitler“ stehen für die totale, historisch real gewordene Negation der Menschenwürde. […] Gerade dieser Versuch der Vernichtung einer (völkisch-rassischen) Besonderung, der Juden, im Namen einer anderen (völkisch-rassischen) Besonderung, der Deutschen, ist aber das extremste Dementi des humanitären Universalismus bzw. der Idee der Menschheit und ihrer unveräußerlichen Rechte. Mit dem „Faschismus“ ist daher der Anti-Mensch aufgetreten, so daß der „Anti-Faschismus“ zur Religion des Menschen werden kann, die ihre Symbole in eben dieser Negation des Menschen findet.“

Als expliziter Gegenpol zur Rassenlehre der Nationalsozialisten gewinnt der moralisch-politische Universalismus seine existenzielle Relevanz. Als Rückgrat des westdeutschen Diskurses, als „archimedischer Punkt“, der dem pluralistischen Werterelativismus der Nachkriegszeit Stabilität und Orientierung verleiht. Mit dieser schonungslos analytischen Dekonstruktion des Holocaust als bloßes Funktionssystem brachte Sieferle sich womöglich um seine akademische Karriere. Doch jenseits der Frage, ob nicht objektiv tatsächlich ein universalistisches Denken notwendig ist, um dem Völkermord in der theoretischen Aufarbeitung zu begegnen – was er sich als Historiker komplett spart -, legt er damit ein Denkschema frei und dringt so zu einer hochinteressanten Frage durch, mit der wir uns langsam der Gegenwart annähern: Denn – wie ist ein staatliches Handeln beschaffen, das einerseits nur Innenpolitik kennt, andererseits aber als politische Richtschnur das Wohl der Menschheit über nationales Eigeninteresse stellt? Das also ausschließlich Innenpolitik betreibt, weil es Außenpolitik als unmoralisch und reaktionär betrachtet – und doch im Rahmen dieser Binnenpolitik nur universalistische Ideale des Menschheitswohls pflegt, da ein genuin deutsches Eigeninteresse ebenfalls als unmoralisch, geradezu als gefährlich gilt?

Noch 1994 konstatiert Sieferle, das groteske Paradoxon bundesdeutschen Denkens aufschlüsselnd, ironisch eine bloße „Politiksimulation“, eine umfassende „Entpolitisierung“ der Politik, ein penetrantes Maulheldentum, das unentwegt internationalistisch proklamiert und fordert, weil es, ähnlich dem pubertierenden Teenager, ja insgeheim weiß, daß von ihm keine Eigenverantwortung erwartet wird.

Abkehr von der Machbarkeit

Das ist mittlerweile 25 Jahre her. Dieser Zeit trauert der heutige Konservative ironischerweise mittlerweile bitter hinterher, es ist eine Zeit, in die noch die Verschärfung des Asylrechts durch die Regierung Helmuth Kohls fällt, um die Flut von Asylbewerbern und Flüchtlingen aus dem Balkan sinnvoll einzuschränken. In der auch die mittlerweile zur Berühmtheit gekommene palästinensische Großfamilie Chebli noch zwei Mal zurück in den Libanon abgeschoben wird, da es sich dabei um ein sicheres Drittland handelt – in der also noch immer ein praktizierter Unterschied zwischen der universalistischen Gesinnungsethik der Meinungsmacher und politischer Rationalität besteht.

Jedoch: dadurch, daß die Deutschen sich daran gewöhnten, sich politisch in einem abstrakten, moralischem Raum von Appellen und Protesten zu bewegen, deren Realisierungspotential niemals anskizziert werden musste, weil es keines gab, verfestigt sich nach Sieferle bereits Anfang der 90er ein neuer Politikstil, in dessen Mittelpunkt das so passive wie pathetische Beschwören theoretischer, universeller Werte steht. Und nun – wir bewegen uns über Sieferle langsam hinaus – wächst also eine neue Generation heran, wächst hinein in jene bundesrepublikanische Sphäre, aufgeladen und definiert von leidenschaftlich mahnender Gesinnungsethik, die zunehmend zum guten Ton gehört, zum Handwerkszeug geradezu, jedes aufstrebenden Politikers, Journalisten oder Kolumnisten wird, dessen Stimme nach Anerkennung und Gehör verlangt. Um so, als neue ideologische Avantgarde die noch bestehenden Reste von Pragmatik, von Verantwortungsethik und Realpolitik aufzustöbern, zu skandalisieren und so die deutsche Diskurssphäre immer weiter in eine ritualisierte Beschwörung von Prinzipien und Maximalforderungen zu treiben.

Diese neue Generation hat mit Sieferle etwas gemeinsam: auch sie nimmt schmerzlich die fundamentale Kluft zwischen Wort und Tat wahr. Doch im Gegensatz zu ihm, bei dem das Machbare die Richtschnur bildet und damit die mangelnde Realitätstauglichkeit der deutschen Nachkriegsideologie die fehlerhafte Entwicklung darstellt, hat die Generation, die nach Sieferle kommen wird, den humanitären Universalismus, die abstrakte Gesinnungsethik, mittlerweile fest verinnerlicht. Was ihm noch lächerlich scheint, erscheint den jungen Deutschen empörend – für sie ist es die Realität, die nun endlich den Idealen folgen muss, sie nehmen die ritualisierten Sonntagsreden, in denen die deutsche Nachkriegselite sich für den Mangel an Entscheidungsgewalt mit utopischen Appellen entschädigt, für bare Münze.

„Wir können nicht alle aufnehmen“, sagt Angela Merkel im März 2015 nun zum weinenden palästinensischen Flüchtlingsmädchen Reem. Dieser Satz ist objektiv wahr – dennoch wird er in der Folge das auslösen, was man mittlerweile als „Shitstorm“ bezeichnet: die deutschen Medien fallen wütend über die Kanzlerin her, betiteln sie als „empathielos“ und „Eiskönigin“. Im Herbst dann hat sie, die man als reine Pragmatikerin der Macht wohl schlicht als gesichtslosen Ausdruck der Zeit ansehen kann, bereits aus dieser negativen Resonanz gelernt. „Wir schaffen das.“ Der Großteil Europas fasst sich entsetzt an die Stirn, die Restwelt beobachtet fasziniert das Geschehen, und die deutsche Presse jubelt, feiert und applaudiert, gerät in eine bis dato kaum gekannte fieberhafte, enthusiastische Aktivität, als eine nicht-endende Völkerwanderung vom Nahen Osten nach Deutschland einsetzt, die erst verebbt, als die verzweifelten osteuropäischen Länder im Frühjahr 2016 die mazedonische Grenze abriegeln.

„Endlich tun wir etwas!“ – „Deutschland geht voran“ – es scheint fast, als würde sich das jahrzehntelang angestaute Nichtstun in einer gigantischen Befreiungsgeste entladen, mit denen die Deutschen nun endlich die peinliche Kluft zwischen ihren inbrünstig verfochtenen humanitären Prinzipien und der untätigen Praxis schließen können. Sowohl sich selbst, dem Anspruch des eigenen Selbstbildes als auch der Welt gegenüber, die nach Wahrnehmung des selbstgeißelungsfreudigen Nachkriegsdeutschen noch immer ein sehr dunkles, negatives Bild Deutschlands pflegt, kann Deutschland nunmehr die innerlich schon längst ersehnte und intellektuell vorbereitete Verwandlung vollziehen. Aus dem Kokon des demokratieunfähigen, gewalttätigen Nachhilfeschülers schlüpft die strahlende humanitäre Avantgarde und öffnet stolz die farbenprächtigen Flügel. Das Land macht sich nun selbst zum Versuchslabor eines universalistischen Gesellschaftsexperimentes, wobei auf dem beschränkten Gebiet des deutschen Staates eine Miniatur-Utopie errichtet werden soll, die globale Gerechtigkeit im Kleinen gewissermaßen, worin alle Markierungen, die Deutsche von Nicht-Deutschen scheiden, überwunden sind. Vielmehr soll die kraftvolle Synthese aller Verschiedenheiten unter der Prämisse einer einigenden, prinzipiellen Gleichheit als humanitäres Erfolgs- und Zukunftsmodell einer verblüfften Welt vorgeführt werden, der aus Sicht des von seiner Vision ergriffenen Deutschen dazu bislang leider der Mut, der Weitblick, die moralischen Prinzipien fehlen. Die Deutschen sind zurück.

Und nicht nur die Migrationspolitik, auch in der Umweltpolitik lässt sich diese Charakteristik ausmachen. Denn das multikulturelle Gesellschaftstransformationsexperiment wird flankiert von zwei umweltpolitischen Großthemen: der Energiewende, dem Ausstieg aus der Atomenergie, und der Klimakrise, der Reduktion des CO2-Ausstoßes, um die Erderwärmung zu verhindern. Auch hier wird Deutschland zum Projektlabor umfunktioniert, wo im Binnenrahmen allgemeine Menschheitsprobleme gelöst werden sollen. Und auch hier primär unter dem Gesichtspunkt einer abstrakten Gesinnungsethik, während zentrale praktische Probleme – beispielsweise, daß ein Komplett-Umstieg auf erneuerbare Energien technisch bislang gar nicht möglich ist – eine bloß marginale Rolle spielen. Vielmehr, so zeigen Energiewende wie Willkommenkultur gleichermaßen, haben die deutschen Eliten  aus der überhitzten Appellkultur, wie Sieferle sie noch schildert, mittlerweile eine beinahe schon märtyrerhafte Verachtung von Machbarkeit, Rationalität oder möglichen Fragen nach negativen Folgen entwickelt. „Wenn nicht wir, wer dann?“ – da der Deutsche jede Form nationaler Interessenspolitik und letztlich jede Form nationaler Selbstdefinition zugunsten universalistischer Ideale überwunden hat, kennt Deutschland für sein eigenes Volk mittlerweile womöglich keinen anderen Daseinssinn mehr als sich selbst als progressives Versuchslabor zugunsten abstrakter, universaler Ziele aufzuopfern.

Der eigene Wohlstand, die eigene, innere Stabilität, Bildung und Gesundheitssystem – all das praktisch Funktionale ist von einer Errungenschaft zur Last geworden, zum Anlaß von Scham geradezu, da damit ein genuin Deutsches markiert wird, eine Unterschiedenheit Deutschlands zu anderen Ländern, besonders den armen, aufrechterhalten. Der glühend-zahnlose Universalismus der Generation Sieferles mischt sich mittlerweile mit vulgarisierter Kapitalismuskritik und Einflüssen aus den angloamerikanischen „Post Colonial Studies“. Die distinguierten Deutschen sind damit nicht nur mehr Mahner eines universellen Menschenwohls, sie sind qua ihres Reichtums nun auch noch schuld an der Armut der anderen. Ein schonungsloser Raubbau an den eigenen Resourcen zugunsten der Allgemeinheit erscheint damit geradezu als moralische Pflicht, um das verbrecherisch Zusammengeraffte wieder zurückzugeben.

Bruchlinie zwischen Ost- und Westdeutschalnd?

Abschließend ist es vielleicht interessant sich zu vergegenwärtigen, daß Sieferle nur Westdeutschland beschreibt, was wiederum die Möglichkeit eröffnet, auch die zunehmend offener zutage tretende Polarisierung zwischen Ost und West auf diese Bruchlinie hin zu untersuchen. Den Ostdeutschen war in der Nachkriegszeit ein anderer Weg beschert und im Grunde warten sie noch immer auf den kundigen Seelenforscher, der den spezifisch ostdeutschen Mentalitätssedimenten nachspürt. Hellsichtig immerhin stellt Sieferle fest, daß in Ostdeutschland „eine Reihe von Eigentümlichkeiten der deutschen Kleinstadtkultur überlebten, die im Westen längst hinwegmodernisiert worden waren“. „Die DDR repräsentierte weniger eine bessere Zukunft, als daß in ihr Elemente der deutschen Vergangenheit konserviert waren.“  Es mag an der offen autoritären Beschaffenheit der DDR liegen, aber im Gegensatz zum Westen, wo die Intellektuellen oft geradezu romantische Vorstellungen gegenüber den sozialistischen Ländern hegten, hat die Masse der dem realexistierenden Sozialismus ausgesetzten DDR-Bürger offenbar niemals die auch im Sozialismus exzessiv gebrauchten Begriffsfelder von „internationaler Solidarität“ und „Antifaschismus“ verinnerlicht, sondern lediglich als Rhetorik hingenommen. Dadurch präsentiert der deutsche Realsozialist des Ostens dem deutschen Theoriesozialisten des Westens ironischerweise einem dem letzteren geradezu aus der Zeit gefallen scheinenden Alltagskonservativismus, und das westlich exklusive humanitäre Sendungsbewusstsein, die gefühlte Verpflichtung auf das universelle Menschheitswohl ist ihm weitgehend fremd. Nationale Interessenspolitik, eine Politik, die sich primär der Mehrung von Wohlstand und Lebensqualität des eigenen Landes widmet? Der Westen versteht nicht mehr, was der Osten noch immer will.

„Wir kämpfen hier schon so lange dafür, daß sich für uns etwas ändert. Da kannste jetzt nicht auch noch um ein paar Bäume kämpfen.“, meint beispielsweise eine Görlitzerin im Mai 2019 gegenüber der Spiegel-Reporterin, nachdem dort die AfD die bundesweit mit stärksten Ergebnisse erzielte. Das ist quasi der interessenspolitische Mittelfinger ins Gesicht der Gesinnungsmoral des westdeutschen Journalisten, der gar nicht weiß, was ihm geschieht, weil diese rigide Ablehnung alles infragestellt, was ihm an bundesdeutschem Wertefundament anerzogen wurde. Halb mitleidig, halb empört – halb angeekelt, halb pädagogisch steht der westlich sozialisierte Journalist vor einer solchen Aussage, die aus einer ganz anderen Welt stammt, die ihm so verschlossen und rätselhaft bleibt wie dem Görlitzer umgekehrt dessen Überzeugungen.

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