„Zeus ist tot“ – Hippies im Altertum

(Halbdunkel. Hinter den beiseitegezogenen Vorhängen des Bühnenhintergrundes liegen Mike und sein Vater Josef, dieser wach und unruhig.)

Mike (im Schlaf): Ha, das gilt nicht! Bleib auf deiner Bahn!

Josef: Das ist genau das Übel, das mich zugrundegerichtet hat. Noch im Traum glaubt er, er lenkt einen Rennwagen.

Mike: Wieviele Runden hat er schon, der Wagen?

Josef: Für deinen Vater und sein Hab und Gut wird’s bald die letzte sein. – Aber welche Forderung steht mir noch ins Haus? Dreitausend Euro für Reifen und Wagen bei Müllers.

Mike (wie oben): Fahr den Wagen in die Boxengasse…

Josef: Und mich, du Idiot, mich hast du so aus dem Fahrersitz gehoben, daß ich vor verlorenen Prozessen und angedrohten Pfändungen nicht ein noch aus weiß!

Mike: Nein wirklich, Vater, warum bist du so unzufrieden und wälzt dich herum die ganze Nacht?

Josef: Mich beißt der Gerichtsvollzieher.

Aus welchem Theaterstück stammt dieser kurze Auszug? Es ist ein Stück, in dem der Sohn alles Geld des Vaters verprasst, weil er nur sein kostspieliges Hobby im Kopf hat. Ein Stück, in dem Vater und Sohn dann bei einem gewissen S. in Behandlung gehen, einem Psychiater und anarchisch-intellektuellen Hippie. Ein Stück, in dem schließlich der Sohn gegen seinen eigenen Vater rebelliert, ihn verdrischt und ihm dann nachweist, dass dies recht sei.

Es ist kein Theaterstück des 20. oder 21. Jahrhunderts. Es wurde im 5. Jahrhundert vor Christus von dem griechischen Komödiendichter Aristophanes verfasst, trägt den Titel „Die Wolken“ und wurde 423 v. Chr. uraufgeführt. In meinem Auszug oben habe ich nur die Namen der Protagonisten geändert und einzelne Worte etwas „modernisiert“ (vgl. S. 93f. in der unten angegebenen Ausgabe). Der Sohn heißt bei Aristophanes Pheidippides, der Vater Strepsiades. Das kostspielige Hobby des Sohnes sind die Pferderennen. Und der oben erwähnte S. ist niemand anderes als – Sokrates, der berühmte Philosoph, der Lehrer Platons!

Weil Strepsiades Angst vor dem Gerichtsvollzieher hat, will er seinen Sohn dazu überreden, im „Denkgebäude“ des Sokrates in die Lehre zu gehen. Anders als man erwarten würde, soll Pheidippides bei Sokrates keine philosophischen Wahrheiten erlernen, sondern nur die Kunst, aus einem „Wortgefecht“ als Sieger hervorzugehen. Pheidippides weigert sich aber, die Redekunst zu erlernen. Der dreiste Sohn pfeift einfach auf seinen „Alten“: „Ich geh jetzt ins Haus; am besten ich kümmere mich gar nicht um dich.“ (S. 96)

Hinweise auf mögliche Ursachen für die Ungezogenheit des Sohnes liefert das Stück in großer Menge. Das Kind wurde von seinem Vater vielleicht etwas zu sehr verwöhnt: „Du sagtest ‚brmpf‘ und ich verstand es und gab dir zu trinken; du batest ‚schmpf‘ und ich kam mit einem Stück Kuchen gerannt, und manches konntest du gar nicht schnell genug sagen, daß ich nicht schneller noch mit dir hinaus wäre zur Tür und dich über den Rinnstein gehalten hätte.“ (S. 132) Später dann scheint der „autoritätsschwache“ Vater jedem Wunsch seines Sohnes nachgegeben zu haben: „Und es hab doch auch ich dir gefolgt, oh ich weiß noch, sechs Jahre warst du alt, hast mir die Ohren vollgeplaudert und ich hab dir vom ersten Obolos, den ich verdient hab als Geschworener, ein Wägelchen gekauft zum Zeusfest.“ (S. 117) Man fühlt sich lebhaft an aktuelle Debatten über Verwöhnung, Disziplin und Autorität erinnert.

Weil sein Sohn sich weigert, beschließt Strepsiades, selbst bei Sokrates in die Lehre zu gehen. Dieser empfängt ihn und lässt sich überreden, Strepsiades als Schüler aufzunehmen. Er weiht ihn auf der „heiligen Liege“ (S. 99) ein. Strepsiades soll nun allen Göttern entsagen und nur noch den Wolken huldigen. Diese, so Sokrates, seien die einzigen Göttinnen. Er vollzieht, mehr als zweitausend Jahre vor Nietzsche, die Totsagung Gottes.

Strepsiades: Aber Zeus, ich beschwöre dich, der olympische, ist der uns kein Gott?

Sokrates: Was für ein Zeus? Ein Zeichen ist das ohne Bedeutung. Zeus ist tot.

Strepsiades glaubte, es sei Zeus, der den Donner verursache. Sokrates belehrt ihn eines Besseren und liefert eine „naturwissenschaftliche“ Erklärung des Donners: Es seien die Wolken und Luftwirbel, die diesen verursachen. So kommt der „Aufklärer“ Sokrates zu dem Ergebnis, es gebe keine anderen Götter als „Chaos und Wolken und Zunge“ (S. 104).

Nach diesen und einigen anderen Belehrungen geht Strepsiades in Behandlung beim Psychiater Dr. Sokrates.

Sokrates: Jetzt aber leg dich hin.

Strepsiades: Wozu? Sokrates: Du sollst etwas zutage bringen über dich und deine Probleme.

Strepsiades: Aber nicht dort auf der Liege, ich fleh dich an! Wenn ich schon herumwühlen soll in mir, dann laß mich auf der Erde sitzen!

Sokrates: Ohne Couch geht’s nicht.

Sokrates empfiehlt seinem Patienten die Technik der freien Assoziation: „Halt still! Und wenn du nicht weiterkommst mit einem Gedanken, laß ihn los, entfern dich von ihm, und je nach Einsicht beweg ihn von neuem und schließ ihn auf! […] Halt jetzt das Denken nicht zu eng um dich an der Leine, sondern laß es fliegen ins Blau mit einem Faden am Bein wie einen Goldkäfer!“

Als sein Klient dann aber auf die Frage, wie er eine Verurteilung von sich abzuwenden gedenke, mit erbärmlich blödsinnigen Antworten daherkommt („Wenn nur noch einziger Prozeß daran ist vor dem meinigen, dann renn ich und häng mich auf.“ [S. 115]), wird es Sokrates zu dumm und er jagt seinen Schüler aus dem „Denkgebäude“.

Nun will Strepsiades doch noch einmal versuchen, seinen Sohn Pheidippides zu überreden. Er macht ihm klar, dass das mit den Göttern alles Unsinn ist und preist die Lebensweise der Hippies aus der Sokrates-Schule an: „Männer, die klug sind und Verstand haben und so sparsam sind, daß keiner sich je die Haare schneiden läßt oder sich salbt oder in ein Bad geht, um sich zu säubern!“ (S. 116) Schließlich gibt Pheidippides nach, nicht ohne böse Hintergedanken: „Gut. Aber es wird dich reuen mit der Zeit.“ (S. 117)

Bei Sokrates wird Pheidippides ein Sophist, „der gewaschen ist mit allen Wassern“ (S. 124) und demonstrieren kann, dass das Schändliche schön, das Schöne aber schändlich ist. Sein Vater ist am Ende der Lehre ebenso erstaunt wie erfreut über das Ergebnis; er weiß noch nicht, was er sich da für ein Kuckucksei ins Nest gelegt hat.

Der Sohn nämlich hat keineswegs den Wunsch, seinem Vater gegen den Gerichtsvollzieher beizustehen; er ist schon vom anarchischen Geist der „Hippies“ infiziert. Als es zum Streit zwischen den beiden kommt, lehnt er sich auf und verprügelt seinen Vater. Doch damit nicht genug, er will ihm auch noch beweisen, dass er ihn zu Recht verprügelt habe. Pheidippides argumentiert so: Weil sein Vater ihn früher zur Strafe gelegentlich geohrfeigt habe, habe er nun ebenfalls das Recht, ihn zu verprügeln.

Strepsiades: Aber nirgends ist es der Brauch, daß dem Vater so etwas geschieht.

Pheidippides: War nicht jener, der diesen Brauch eingeführt hat als erster, ein Mensch wie du und ich, und hat er seine Mitwelt nicht mit Worten dafür gewonnen? Warum also soll es mir weniger zustehen, für die Zukunft neue Tafeln aufzustellen den Söhnen, sodaß sie anprügeln gegen die Väter vergeltungsweise?

Als Strepiades seinen Sohn zur Ehrfurcht gegenüber Zeus, dem „Gott der Väter“, mahnt, zeigt sich, wie gründlich ihm die Sache mit den Göttern von Sokrates (und auch vom eigenen Vater!) ausgetrieben worden ist.

Pheidippides: Hört hört, der Gott der Väter! Wie zurückgeblieben du bist! Gibt es denn einen Zeus?

Strepsiades: Es gibt ihn! Pheidippides: Es gibt ihn nicht, oh nein, denn der Wirbel herrscht und hat Zeus vertrieben.

Strepsiades: Er hat ihn nicht vertrieben, das hat mir nur das bärtige Wirbeltier dort eingeredet! Weh mir, und ich hab ihn angenommen an Gottes Statt!

Pheidippides: Besprich deine Albernheiten und dein wirres Zeug mit dir allein!

Das sind die letzten Worte, die Pheidippides in den „Wolken“ spricht. Strepsiades jedoch ist nun so aufgebracht, dass er beschließt, das „Denkgebäude“ Sokrates’ niederzubrennen und ihn und seine Schüler „auszuräuchern“. Gemeinsam mit einem Sklaven tut er dies tatsächlich.

Das „Denkgebäude“ steht in Flammen, Sokrates und seine Schüler rennen heraus – hier endet das Stück und überlässt den Leser oder Zuschauer seinen Fragen, die sich vermutlich um die zersetzende Wirkung der Aufklärung, um die bewahrende Wirkung der Tradition, um Konservatismus und revolutionäre Bestrebungen, um den Generationenkonflikt und viele andere Dinge drehen werden, die einen vermuten lassen könnten, das Stück sei erst gestern verfasst worden.

Literatur

Aristophanes: Die elf erhaltenen Komödien. Übersetzt von Wolfgang Schöner. Wien: Deltos 1989.

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