Herausforderung Europa: Zwischen Vision und Realität

Ist Europa unser unabwendbares Schicksal? Von Links bis Rechts hat das Wort von Europa einen schweren Klang bekommen. Schon leichte Skepsis gegenüber Europa macht heute unter den Intellektuellen verdächtig. Wir dürfen nicht mehr viel sein, aber Europäer, das sollen wir sein wollen. Doch was ist Europa und welchem Wir gibt es seinen Namen? Die Vielfalt der möglichen Antworten zeigt, dass Europa noch lange nicht gefunden ist. Die Enthusiasten sollten sich beruhigen. Europa ist ein Nebel für den Mühe nötig ist, um ihm klare Konturen abzutrotzen.

Ein Lagebild

Europa, verstanden als jener Teil der eurasiatischen Landmasse, dem traditionell der Status eines Kontinents zugesprochen wird, befindet sich politisch seit Jahren im Krisenmodus. Im Prozess der politischen Einigung der europäischen Staaten im Konstrukt der EU offenbaren sich zusehends Zentrifugalkräfte, die einzelne Staaten und Verbände wieder herausdrängen, hin zum Verfolgen vitaler Eigeninteressen und unverblümter Egoismen. Die jahrzehntelang immer bunter imaginierte Fata Morgana einer Freundschaft der Völker hat sich in Luft aufgelöst und den Blick freigeben auf eine Wüste, in der der Wind erstaunlich schnell die Gerippe der Vergangenheit freilegt.

Es wird wieder von Reparationen gesprochen, Schulden gegen Schuld gerechnet. Während gleichermaßen überalterte und sterbende Gesellschaften sich so anschicken ihre großen Kriege der Farce eines Reeanactement vom Katheder aus zu unterziehen, wird die Ethnographie Europas von Unten abgeräumt. Ungehinderte Masseneinwanderung aus Afrika und Asien schafft Tatsachen, Enklaven von außereuropäischen Minderheiten, die Mehrheiten werden.

Ein Ausgang aus der unverschuldeten Unmündigkeit des kalten Krieges hat nicht stattgefunden. Weder gegen die Ansprüche des US-amerikanischen Hegemons, noch gegen seinen Herausforderer in Gestalt der entmarxifizierten Nomenklatura Eurasiens zeigen sich europäische Staaten in der Lage, eigene Akzente zu setzen. Keine Prognose und auch keine Vision einer europäischen Einigung, ja überhaupt eines Fortbestands europäischer Völker, kann Substanz haben, wenn sie diese Tatsachen nicht auf die Rechnung nimmt.

Angesichts der existenziellen Bedrohung der europäischen Völker durch Geburtenmangel und Masseneinwanderung und des offensichtlichen Scheiterns der EU als Garant eines europäischen Großraumes, stellt sich für den Teil der Jugend, der den Anspruch hat, nicht im Imperium des Nichts[1] zu verschwinden, die Frage nach der Sinnhaftigkeit und den Möglichkeiten einer eigenen Europa-Vision.

Die Beantwortung dieser Frage darf sich nicht im Pathos erschöpfen, welches nur Leerstellen überdeckt. Sie muss gründlich und ergebnisoffen erfolgen, unter schonungsloser Einbeziehung der demographischen, ökonomischen, soziobiologischen und alltagskulturellen Realität. Sie muss auch betrieben werden im Bewusstsein ihres möglichen negativen Ausfalls. Denn auch das kann eine Erkenntnis sein: dass die Verwerfungen ethno-demographischer, institutioneller und ökologischer Art keinen Raum mehr lassen für Großraumvisionen, sondern den Vereinzelten vielmehr zurückwerfen zu den kleinsten Organisationsformen: zu Familien, Stämmen und Bünden.

Sicher sein dürfte, angesichts des Scheiterns der EU-Technokratie eine echte Einigkeit der Europäer zu begründen, dass eine Europa-Vision ohne seelisches Fundament, ohne den einigenden Mythos, zum erneuten Scheitern verdammt ist. Die seelenlose Technokratie der EU war eine Erblast der Paneuropäischen Bewegung. Angesichts dessen Wiedergeburt nach dem zweiten Weltkrieg schrieb Julius Evola im Jahr 1951:

Der Europagedanke gewinnt heute bei den meisten verantwortungsvollen Geistern unseres Kontinents immer mehr an Boden. Man ist sich jedoch selten über einen Punkt von grundlegender Bedeutung klar: Ob dieser Gedanke aus der Notwendigkeit stammt, sich gegen den drohenden Druck außereuropäischer Mächte und Interessen zu verteidigen, oder ob man höher zielt, ob man nach einer organischen Einheit strebt, die einen positiven Inhalt und ein eigenes Gesetz hat. […] Die meisten föderalistischen Lösungen gehören der  ersten Alternative an und können nur den zufälligen Charakter einer Vereinigung von Kräften haben, die  – da sie jedes inneren Bandes entbehren – bei Veränderung der Umstände wieder auseinanderfallen.“[2]

Alte Welt – Fremde Welt

Ein Gang durch die Geschichte Europas zeigt, dass diese keine fertige Europa-Vision, keinen Instant-Mythos bietet. Jene Zeit, in der Europa zuallererst eine Geliebte des Zeus war, sah für jenen Raum, der heute nach ihr benannt wird, die tiefe Trennung zweier Kulturräume. Um das Mittelmeer wand sich die griechisch-römische Welt, welche die Kulturen und Völker des alten Orients absorbiert und das antike Semitentum in Gestalt der Phönizier, Punier und Juden nach und nach unterworfen hatte. Oswald Spengler verfocht prominent die These der tiefen Andersartigkeit dieser Kultur gegenüber den Kulturen des europäischen Mittelalters und der Moderne. Davon unbeeindruckt wird die griechisch-römische Welt von Europa-Enthusiasten bis heute als Jugendform einer gemein-europäischen Kultur gesehen.

Eine solche Bewertung verschweigt allerdings das asiatische Element dieser Welt ebenso wie die Fehleinschätzung jahrhundertelanger Antikerezeption, die von Idealisierung und Projektion geprägt war. Dass Tempel und Statuen dieser Welt nicht puristisch rein waren, wie es sich Männer wie Goethe und Winkler nicht zum Schaden ihrer eigenen Produktion vorstellten, ist dabei nur die offensichtlichste Fehleinschätzung gewesen.

Nördlich der griechisch-römischen Welt blühte jener keltisch-germanische Kulturkreis, der stets Stiefkind aller Entwürfe gemein-europäischer Identität bleiben sollte. Zu wenig glänzendes Museumsinventar hat er hinterlassen, zu wenig geistiges Kulturgut überstand die Christianisierung. Versatzstücke, Floskeln und sonstige Schatten der Kultur der mittelmeerischen Antike dienen bis heute als Schmuck und Distinktionsmerkmal höherer Schichten und Gebildeter. Demgegenüber sank der Norden, jenseits der politisch verfolgten, redlich-einfältigen Restaurationsversuche völkischer Kreise, zu einem Klischeelieferanten der Popkultur herab.

Für die Menschen des antiken Mittelmeerraumes war der Norden des barbarische Ganz-Andere: Unwirtlich, unverständlich, bedrohlich. Der geopolitische Fokus des römischen Imperiums lag östlich und südlich von Rom, da, wo seine Kornkammern lagen. Die germanischen und britischen Provinzen waren nie systemrelevant. Sie wurden entblößt, wenn der Osten unter Druck geriet und schließlich aufgegeben. Ein Prozess, der als Aufgabe des gesamten Westreiches und der Entstehung des Byzantinischen Reiches seinen logischen Abschluss fand. Der geopolitische Drang nach Osten wurde orchestriert durch die religiöse Überfremdung der altrömischen Kulte durch griechische und ägyptische Mysterien, hellenistische Gnosis, persischen Mithras-Kult und zu guter Letzt den siegreichen nahöstlichen Christus.

Gemeinsam mit dem in der Völkerwanderung einbrechenden Norden wird dieser Christus, gefolgt von seinem arabischen Epigonen, das Imperium vollständig abräumen. Eine linksliberale Geschichtsschreibung hatte das Zeitalter dieses Unterganges versucht zu einer Zeit der kreativen Transformation zu stilisieren.[3] Groß ist offensichtlich die Furcht, die Gegenwärtigen könnten Parallelen zwischen ihrer Zeit und dem Untergang des Imperiums ziehen und die linksliberale Progression als den Verfall sehen, der sie ist. Demgegenüber kehrt die aktuelle althistorische Forschung auf Basis der Wirtschaftsarchäologie, die für die Endzeit Roms und die folgenden Jahrhunderte einen massiven ökonomischen Einbruch und Entvölkerung feststellte, wieder zur klassischen Perspektive zurück. Das Ende Roms war eine Katastrophe.[4] Was danach kam war durch einen tiefen Graben getrennt von dieser Alten Welt.

Aufstieg und Niedergang des Abendlandes

Im Mittelalter war der Occidens, volkssprachlich übersetzt als Abendland oder, wie bei Martin Luther, einfach Abend, der kulturelle Großraum als Bezugspunkt. Dieses Abendland war sehr klar definiert. Eine Tatsache, die im Angesicht der sinnentleerten Nutzung dieses Begriffs durch Pegida, rechte Islamkritik und Rest-CDU, umso deutlicher zu Tage tritt.

Abendland waren jene Gesellschaften, die sich durch zwei Eigenschaften auszeichneten. Sie alle ordneten sich dem römischen Christentum unter und wurden politisch durch einen aus dem germanischen Stammeswesen hervorgegangenen Feudalismus konstituiert. Die Schöpfung dieses Kulturraums geschah in dem langen und vernebelten Zeitraum von Spätantike und Frühmittelalter durch zwei Prozesse: der Germanisierung der bereits christlichen Restbestände des weströmischen Reiches durch Etablierung germanischer Oberschichten und der von hier zurücklaufenden jahrhundertelangen Christianisierung der germanischen Welt Mittel- und Nordeuropas.

Dieses Abendland ist das Land des Nibelungenliedes, der Parzival- und Arthus-Sagenkreise, der Kathedralen und der Scholastik. Es ist jener Kulturraum, dessen Angehörige von den Arabern kollektiv als Franken identifiziert wurden, womit sie der kulturellen Gemeinschaft dieser Völker Rechnung trugen. Kein Teil dieses Abendlandes waren die slawischen Völker des orthodoxen Ostens. Griechenland, verkörpert durch Byzanz, war aus abendländischer Perspektive Teil des Morgenlands.

Mit seinen Schöpfungen steht dieses Abendland in einer Reihe mit den großen Hochkulturen der alten Chinesen, Inder und Ägypter. Seinen großen Mythos schuf es sich durch seine Kreuzzüge gegen die slawischen Heiden, die moslemische Welt und den häretischen Feind im Inneren. Daraus ergibt sich, was die Kristallisationspunkte abendländischer Identität waren. Die Gewissheit des wahren Christentums und seine Verteidigung durch den germanischen Adel und seine Ritterschaft. Auf eine Formel eingedampft: Abendland, das ist Germanentum plus Christentum.

Damit ist bereits die Problematik der gegenwärtigen Verwendung dieses Begriffs erfasst. Der Untergang des Abendlandes ist bereits gelaufen. Sein Christentum ist tot. Zentrale abendländische Nationen, insbesondere Frankreich, haben ihren germanischen Adel ausgerottet oder wenigstens gänzlich entmachtet. Was geblieben ist, sind Parodien: Kalt-kriegerische Christdemokraten, die das heilige Eigentum eines wurzellosen Unternehmertums gegen bolschewistische Sowjethorden verteidigen wollen, frustrierte Babyboomer und Fußballfans, die für abendländische Werte auf die Straße gehen, unter denen alles verstanden wird, was einen zünftigen Ballermann-Urlaub ausmacht.

Gänzlich losgelöst von jeder historischen Substanz vagabundiert durch die Medien schließlich noch die Fiktion eines jüdisch-christlichen Abendlandes, so als wären sich diese Religionen die letzten 2000 Jahre nicht spinnefeind gewesen.

Triumph des Individuums

Seine ersten Risse hatte das Abendland im Zeitalter der Reformation bekommen, als einige der protestantischen Sekten in der Nachahmung des alten Israel eine Identität entwickelten, mit der eine friedliche Bindung an das Abendland mit seiner Toleranz gegenüber seinen eigenen Widersprüchen, nicht mehr ertragbar wurde. Umso mehr dagegen konnten diese Sekten eine produktive Verzahnung mit dem frühen Kapitalismus eingehen, der sich als der Transmissionsriemen erwies, mit dem das Abendland effektiv zersetzt wurde. Neben diesem Protestantismus, der seine radikalen und wirkmächtigsten Vertreter in der angelsächsischen Welt hatte, steht die Ideologie der Aufklärung, die über die Institution der Freimaurerei die bürgerlichen Klassen Europas durchdrang. Beide Strömungen enden abstrakt im absoluten Individualismus als einzigem festen Wert. Er konstituiert, wofür das Wort von Europa nun seit Jahrhunderten steht: den Westen.

Die katholische Kirche konnte überall über den Kult der Heiligen und Reliquien eine Bindung zum Boden aufbauen und der Adel war schon aus ökonomischen Notwendigkeiten im Boden verwurzelt. Dagegen bildete sich im Bürger des Westens ein Typus heraus, dessen Eigentum, auf Papiere und Konten gebannt, frei transferierbar wurde und dessen Seelenheil vom Gewissen allein abhängend, ebenso allein an ihn gebunden, frei mit ihm flottieren konnte.

Der Westen frisst seine Väter

Zur Tragik des Westens gehört, dass seine Ideologie des absoluten Individuums seine innere Einheit unterminiert und die biologische Basis verzehrt. Die westlichen Nationen schärften ihr Profil in der Schaffung des bürgerlichen Nationalstaates, wie die Individuen ihre in Abgrenzung zu den Kollektiven. Die Weltstädte zehren erst ihr Umland demographisch aus um sich schließlich über die globale Migration an den Bevölkerungen der ganzen Welt zu nähren. Diese strömen in einer Art planetarer Landflucht diesen Zentren zu. Individualisierung und Vermassung verlangen von den Staaten dabei zur Erhaltung der eigenen Funktionstüchtigkeit immer umfassendere Überwachungs-, Unterhaltungs- und Formierungsmaßnahmen, die durch ihre Entwertung der traditionellen Bindungen den inneren Zerfall zusehends beschleunigen. Die Hirne der Intellektuellen suchen den Rettungsanker, in dem sie die Visionen antiliberaler Imperien entwerfen, welche nach Maßgabe von Rasse und Klasse Bindungen schaffen sollen.

Der Paneuropa-Gedanke ist der letzte und bisher substanzärmste Versuch, die Autolyse Europas, jener Retorte des Westens, mit einer Identitätsfiktion zu stoppen. Eine Einheit auf Basis von kulturellen Vereinnahmungen und gegenseitigen Erpressungen, in der Konflikte nicht mehr dialektisch gelöst oder darwinistisch ausgekämpft, sondern per Nudging paternalistisch entschärft werden. Währenddessen hat sich der Westen längst von seinem Mutterboden emanzipiert, ist eine geistige Amöbe geworden, die die Erde umfließt und die Völker in ihre Zellwände einschließt, um sie zu verzehren.

Wovor wir stehen

Es mag sympathisch sein, sich der Kontamination des Nationalismus zu entziehen um in der immer noch bei Vielen positiv besetzten Europa-Vision eine saubere Identität zu finden. Es ist ein Weg, den urbane Konsumeliten in Europa zu ihrem Distinktionsmerkmal gemacht haben. Wer sich der Schaffung und endlichen Umsetzung einer tatsächlichen jungen Europa-Vision aber verschreibt, dem muss bewusst sein, dass er nicht diesen einfachen Weg gehen kann. Er muss eine Vision schaffen, die mehr ist als der Umweg zum Weltstaat durch ein Naturschutzgebiet. Das bedeutet, er muss der Versuchung widerstehen auf jene Traditionslinie zu setzen, die der Westen für sich selber annimmt. Jener Mythos vom Triumph des Individuums im Gang durch die Geschichte von Athen über Jerusalem hinein bis in jede namenlose Weltstadt der Gegenwart ist ein vergifteter Köder. Mit ihm wird Europa scheitern, denn sein Kern ist die Überwindung jeglicher Identität.

Was aber bleibt dann? Wer andere Traditionslinien in der Geschichte dieses Kontinents sucht, wird auf schlafende Ungeheuer stoßen. Verfemte Wörter, deren Verwendung persönliche Hygieneansprüche verletzen können; Grenzen und Sonderungen, die der allgemeinen Harmoniesucht dieser müden Gesellschaft zu viel des Guten sein könnten. Er wird Feindschaften und Exklusivitäten finden, die Parteinahme fordern. Hier streng zu wählen und auch begründen zu können, ist die Herausforderung einer jungen Europa-Vision. Ihre Bewältigung entscheidet darüber, ob am Ende mehr steht, als eine subkulturelle Blüte von Restjugendbewegungen und Neofolk-Kapellen.

Denn Europa ist kein unabwendbares Schicksal, sondern ein weißes Blatt, auf das schon viele Skizzen geworfen wurden.

 

Nachweise:

[1]Vgl. Jack Donovan, Becoming a barbarian, Milwaukie 2016.

[2] Vgl.Julius Evola (1951), Europa und der organische Gedanke, in: derselbe, Tradition und Herrschaft, Grimma 2009.

[3]Vgl. Peter Brown, Welten im Aufbruch, Bergisch Gladbach 1980.

[4]Vgl. Bryan Ward-Perkins, Der Untergang des Römischen Reiches und das Ende der Zivilisation, Darmstadt 2007.

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