Hans Jürgen von der Wense, ein deutscher Vorsokratiker

Ein Kosmos für Fußgänger

Er hatte es immer eilig, so als fürchtete er das Ankommen wie eine letzte Fessel. Hans Jürgen von der Wense entzog sich allen Festlegungen über seine Person und war doch eine Persönlichkeit sui generis. Was war er nicht alles: experimenteller Komponist, manischer Wanderer, Sprachengenie, Spürnase, Fährtenleser, dazu besessen, verzettelt und doch immer präzise. Er las am Wegesrand Zusammenhänge auf, wie andere Müll. In den deutschen Mittelgebirgen entdeckte er Querverbindungen von welthistorischem und erdgeschichtlichem Gewicht. Solch eine Gestalt vermutet man nicht unbedingt in Deutschland und doch war auch an ihm vieles deutsch, nicht zuletzt seine Akribie wie seine Disziplin, mit denen er zu Werke ging. Der unangepasste Spross eines niedersächsischen Adelsgeschlechts erwanderte sich die Welt, die sich ihm noch einmal ganz neu erschloss, ohne dass er dafür ins Ausland musste. Uraltes kam unter seinen Füßen wie unter seinen Blicken hervor, das er sogleich festhielt und weiter erforschte.

Hans Jürgen von der Wense ist der Sohn eines Offiziers, der früh verstarb. Die daraus folgende seelische Zerrüttung der Mutter macht ihn bald heimatlos. Seine erste Liebe gehört der modernen Musik. Er korrespondiert mit Arnold Schönberg, der Autorität auf diesem Gebiet und bittet mit Erfolg darum, fünf Klavierstücke vorspielen zu dürfen. Er publiziert in der Musikzeitschrift „Melos“ und entwirft später gar ein Manifest zur Abschaffung der Musik. Dazu wird sich die Mitarbeit in der expressionistischen „Aktion“ hinzugesellen. Vor allem im Umkreis seiner musiktheoretischen Arbeiten wird sich ein Kreis von Bewunderern bilden, die ihm die Treue halten werden. Dieser besteht aus dem Komponisten Ernst Krenek, dem Pianisten Eduard Erdmann sowie dem Dirigenten Hermann Scherchen. Im Ersten Weltkrieg in diversen Schreibstuben eingesetzt, engagiert er sich nach seiner Entlassung im Spartakus-Aufstand und für die Münchener Räterepublik.

Ein besonderes Berufungserlebnis hat Wense am 7. Mai 1932, als er auf der Durchreise in Bad Karlshafen hängenbleibt, um spontan zum mythischen Desenberg zu wandern. Der Berg ruft zwar, doch gilt nicht ihm die jäh aufbrechende Leidenschaft, sie gilt dem Wandern an sich, genauer, dem Wandern als Lebensform, ähnlich den mönchischen Gyrovagen der frühen Kirche.

„Wandern heißt souverän leben – alles haben und alles lassen. Das ist das irdische Paradies“ verkündet Wense nach seinem Damaskus-Erlebnis in Hessen. Wohlgemerkt: Wandern ist für Wense nicht Erholung, ist mitnichten eine Ablenkung und hat mit Lustwandeln nicht das Geringste zu tun. Wandern ist ein Akt der Askese, ist Auftrag und Arbeit. Um 5:00 Uhr in der Früh geht es meist los. Ohne viel Proviant, aber mit Schirmmütze und in Knickerbockern wird ausnahmslos querfeldein gewandert. Ausgetretene Pfade werden peinlich gemieden. Wense zieht es dabei vor, allein oder mit maximal einer Begleitperson zu wandern, die mit seinem Tempo mithalten muss. Aber auch die Landschaften, die er durchstreifen wird, sind keine Idyllen, sondern Stätten des Kampfes zwischen Natur und Kultur, zwischen Vergänglichkeit und Beharrungskraft. „Chaos und Terror sind meine Götter“ tönt es aus ihm einmal ganz nietzscheanisch. Er wird zu einem existentiellen Odysseus, für den es prinzipiell keine Rückkehr gibt, da eine solche nicht mehr lohnt. Darin steckt zwar, wie im Wandervogel der wilhelminischen Zeit, ein gutes Stück Kultur- und Zivilisationskritik, doch will Wense die Gesellschaft nicht verändern, sondern ihr einfach entfliehen. Die Flucht wird zu seinem Lebensentwurf, wie er freimütig zugibt. Das hat auch praktische Vorteile, da er in der NS-Zeit der Gestapo schlicht davonwandert. Spätere Schätzungen geben an, Hans Jürgen von der Wense habe zu Lebzeiten etwa 24.000 Km oder 42.000 Km zu Fuß zurückgelegt, vornehmlich in Hessen, Niedersachsen, vor allem aber in der Region Ostwestfalen.

Hans Jürgen von der Wense in den sechziger Jahren // ©blauwerke Verlag (blauwerke-berlin.de)

Aufgelesenes und Aufnotiertes

Zu den Superlativen und Kuriositäten dieses Lebens-Laufes gehören die Mappen, die Wense als Frucht seiner Wanderungen angelegt hat. Auch hier beeindruckt die schiere Anzahl: an die 30.000 beidseitig beschriebene Blätter hat er hinterlassen, aber kein einziges Buch. Es scheint, als habe er eine Art Katasteramt geführt, mit kartografischen Zeichnungen, die er eigenhändig erstellt hat sowie mit ausgedehnten privaten Forschungen zu Funden und Beobachtungen, die er unterwegs gemacht hatte. Dabei schaut er durchaus über den nationalen Tellerrand weit hinaus, denn Hans Jürgen von der Wense ist grundsätzlich in allem be-wandert, was einen Zusammenhang mit seinen Befunden herstellen konnte. Hierzu dienen ihm seine ausgedehnten Sprachstudien. Aus hunderten von Idiomen und Dialekten hat er übertragen und seine Forschungen damit ergänzt. Die Sprache nimmt hier gleichsam den Stellenwert einer Landschaft an, die ebenso unterschiedliche „Erdschichten“ aufweist und so als Zeugin für Entwicklungen herangezogen werden konnte. Das Wissen der Erde und das Wissen der Sprache sind für ihn untrennbar miteinander verbunden. In den Notizen und Essays gehen deshalb Anatomie, Etymologie, Archäologie und Semasiologie u.v.m. ineinander über, ohne sich dabei heillos zu verknoten. Vielmehr setzen sich immer wieder einzelne Fäden ab, die neue Ein- und Ausblicke eröffnen und in neue Gewebe eingeflochten werden.

Dennoch ist auch Wense nicht frei von Vorlieben und Voreingenommenheiten. So bewundert er den futuristischen Maler Umberto Boccioni beinahe über alles (Futurismus ist ihm generell wichtig) und verehrt u.a den Komponisten Gustav Mahler und den Schriftsteller Wilhelm Raabe. Die Maler Kokoschka, Chagall oder Beckmann jedoch gehen gar nicht. Auch in der Philosophie schwört er lieber auf einen Denker, den man erst nachschlagen muss: Karl Christian Friedrich Krause (Krausismo). Anfänglich ein begeisterter Besucher der Kasseler documenta, werden auch hier die Töne mit der Zeit ungehaltener, bis ihn die documenta des Jahres 1964 noch einmal begeistern kann.

Manche Schrift Wenses geht nicht unmittelbar auf Wandereindrücke zurück, obwohl sie sich ohne Weiteres in den erweiterten Kontext einordnen lassen. Seltsamerweise handelt ein halbwegs abgeschlossener Essay über das „Stehen“ (aus dem Jahr 1941), der sich beim Lesen als kurzweiliger Zusammenfluss aus Wortfeld, Aphorismus und Lexikoneintrag darstellt.

Wissenschaftliches, wie:

„statio, statim – wie unser altes Statt, das wir noch haben im plural als stätte und im dativ als die präposition statt = an statt von…Wo die Stämme auf ihren Wanderungen stehen blieben, da gründeten sie ihre statt, daher Rastadt „Rast-stätte“, Duderstadt „to der stadt“

wechselt ab mit persönlichen Noten:

„einen der ersten und schönsten Sätze der Welt: Jesus rief ein kind zu sich und stellte es mitten unter sie“

oder Einsichten:

„wenn der Mensch steht, dann steht der Himmel auf seinen Schultern“

Es ist dem Blauwerke-Verlag zu danken, dass man Wense heute überhaupt lesen kann. Auch seine Heraklit-Übertragung („Urworte“) ist dort erschienen. Alle Ausgaben sind mit Kommentar und Zusatzinformationen versehen.

In Christian Schulteisz Porträt-Roman „Wense“ kommt dann noch einmal die ganze schmerzliche Ironie in Wenses Außenseitertum in einer Szene zum Vorschein, in welcher die Hauptperson beim Drill im Volkssturm derart versagt, dass ihm barsch befohlen wird: „Ab zum Wachestehen! Stehen, das können Sie doch, oder?“

Jemals ein Ende?

Wie der erste und der letzte Mensch zugleich bewegte sich Hans Jürgen von der Wense durch die Kulturgeschichte Mitteleuropas. In seinen Streifzügen wurde er einer neuen Ursprünglichkeit gewahr, die ihn immer wieder in ein kindliches Erstaunen versetzen konnte. Darin glich er den ersten abendländischen Philosophen, den Vorsokratikern, die das Staunen angesichts des Elementaren zum Ausgangspunkt ihres Nachdenkens gemacht hatten. Auf diesem Denk-Weg blieb Wense immer in Kommunikation mit dem Leben um ihn herum, mit den Zeugnissen der Natur und der Menschen. Seiner Eile lag vielleicht die Ahnung zugrunde, dass die Zeit, die Weltzeit, davonlief, dass es sich bereits nur noch um eine „Rest-Natur“ (Bernard Charbonneau) handeln konnte. Das hatte bisweilen etwas Zwanghaftes, Pedantisches und Kleinteiliges an sich. Alles sprach zu ihm, alles hatte Bedeutung, auf alles hörte er und allem ging er nach. Das „literarische Genre“ der Notizen war in diesem Welterleben das Naheliegende, da man prinzipiell an ihnen weiterschreiben konnte, ein Provisorium, wie das Leben selbst. Auf dieser Suche nach den Zusammenhängen offenbarte sich gleichzeitig eine unheimliche Zusammenhanglosigkeit, eine zwanghafte Form von Freiheit, die auch auf noch so entlegenen Wanderungen nicht gänzlich erlöst werden konnte.

Hans Jürgen von der Wense beachtete fast alles und wurde selbst kaum beachtet, eine wahrhaft flüchtige Randerscheinung des Geisteslebens, die manchen (etwa Botho Strauß) faszinierte und viele verwunderte. Er war der unermüdliche Entdecker des Ganzen in seinem Teil, des Vergessenen im Gewöhnlichen, des Großen im Kleinen, des Logischen im Paradoxen, des Zeitlosen in seiner Dauer.

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