Friedrich Hölderlin (I) – Der Nekar

Landschaft als Erfahrung und Landschaft als Imagination

Sommer und Herbst des Jahres 1800 waren für Friedrich Hölderlin eine gute und überaus produktive Zeit. Im Juni folgte er einer Einladung seines vertrauten Freundes Georg Chri­stian Landauer, eines Stuttgarter Tuchhändlers, und quartierte sich in dessen Haus ein, wo er bis zum Beginn des folgenden Jahres lebte. Man muss sich Landauers Haus als einen Ort herzlicher und kultivierter Geselligkeit vorstellen: Schriftsteller, bildende Künstler, Verleger und Gelehrte gingen dort ein und aus; man las, debattierte, musizierte und tafelte zusammen. Während seiner Zeit bei Landauer schuf Hölderlin eine Reihe seiner großen, staunenswerten Oden, Hymnen und Elegien. Es scheint, als sei für ihn mit diesem halben Jahr in Erfüllung gegangen, was er in der zwei Jahre früher entstandenen Ode An die Parzen als Dichterwunsch formuliert hatte, wobei er den Gedanken der Todesbereitschaft einschloss:

Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!
   Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,
      Daß williger mein Herz, vom süßen
         Spiele gesättiget, dann mir sterbe.

Einer der Erträge der Zeit bei Landauer war die Ode Der Nekar, ein Gedicht, dass zunächst Hölderlins Heimat – der Dichter wurde in Lauffen am Neckar geboren; durch Nürtingen, wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte, fließt der Neckar ebenfalls – zum Gegenstand hat, dann aber in eine ersehnte Ferne schweift. Dabei findet sich ein Fluss nicht nur im Titel der Ode; vielmehr wird in dieser selbst und ihrem besonderen Bau das Wesen des Flusses nachgebildet: Jede Strophe hat ein oder mehrere Enjambements, Zeilensprünge also, bei denen der Satz die Versgrenze überschreitet. Ebenso gibt es Sprünge, bei denen der Satz über die Grenze der Strophe hinweggeht, so etwa beim Wechsel von der vierten zur fünften oder der sechsten zur siebenten Strophe. Daher hat das Gedicht etwas Kataraktisches – es ist, als ob die Worte und Sätze ungehindert fließen über das Gefälle der Verse und Strophen.

In den ersten drei Strophen spricht das lyrische Ich – oder sollten wir besser sagen: der Dichter? – den Neckar an. Dabei wird das Erlebnis des Flusses und seiner Landschaft als eine herzerweckende, belebende, befreiende Erfahrung geschildert. Im vierten Vers der ersten Strophe wird der Fluss gar als Wanderer angerufen. Das erscheint insofern bedeutsam, als auch Hölderlin ein Wanderer war. Der Dichter verwandelt sich hier das Objekt seiner Dichtung gleichsam an, beide erscheinen wesensverwandt. Überdies bewegen sich beide vor demselben Horizont, den die holden Hügel bilden, und nehmen denselben Weg zum stillerhabnen Rhein, zu seinen / Städten hinunter und lustgen Inseln. Was in diesen ersten drei Strophen zu Wort kommt, kann man, so man es auf eine bündige Formel bringen will, am ehesten vielleicht als innige Vertrautheit mit der heimatlichen Landschaft beschreiben. Wie auch immer – diese ersten drei Strophen von Der Nekar gehören wohl zu den anrührendsten lyrischen Natur- und Landschaftsschilderungen, die wir von Hölderlin kennen.

Mit dem Beginn der vierten Strophe wechselt die Szene. Nun hat es der Leser nicht mehr mit einer – im wahrsten Sinne des Wortes – erfahrenen Landschaft zu tun, sondern einer, die imaginiert wird. Sie liegt, so scheint es zunächst, im Griechenland der Antike: Mit dem goldenen Pactol ist der Fluss Paktolos benannt, der das westliche Kleinasien durchfließt. Schon bei Sophokles, Tibull oder Vergil wird er für seinen Goldreichtum gerühmt. Die antike Stadt Smyrna, an der Westküste Kleinasiens gelegen, wird wegen der legendären Schönheit ihrer Bucht (Ufer) gepriesen. Ilions Wald wiederum meint das antike Troja. Mit dem Wechsel von der vierten zur fünften Strophe wird zugleich der von der östlichen an die westliche Küste des Ägäischen Meeres vollzogen: Sunion ist jenes Kap an der Südküste Attikas, von dem aus der Weg nach Athen mit seinem Olympieion, dem Tempel des Olympischen Zeus, führt.

Im Verlauf der fünften und sechsten Strophe wird klar, dass der Dichter eine Welt beschwört, Die nicht mehr ist. Der Dichter ist der Betrachter, der seinen sehnsuchtsvollen Blick auf das Einst richtet und dabei doch an das Jetzt der eigenen Zeit gebunden bleiben muss. Deshalb erscheint das Griechenland, das er imaginiert, wie ein doppelt belichtetes Bild: Indem Hölderlin klassische Stätten nennt, evoziert er das Griechenland der Antike, zugleich aber überblendet er dieses durch den Verweis auf Sturmwind, Alter und den Schutt der Athenertempel / Und ihrer Gottesbilder und bringt das Griechenland der eigenen Gegenwart zur Sprache. Mit der siebten und achten Strophe führt der Weg wieder ostwärts zu den Inseln Ioniens, wobei nun nicht mehr Stätten der antiken Geschichte und Mythologie, sondern Phänomene der Witterung und Vegetation geschildert und zu einem vitalen, üppigen Naturbild verdichtet werden. Die darin eingezeichneten Pflanzen kann man als Chiffren lesen für Läuterung und Triumph (Lorbeer), Trunkenheit und Rausch (Wein), Fruchtbarkeit, Reichtum und Lebensfülle (Granatapfel, Pomeranze) und aphrodisische Steigerung (Mastix).

Griechenland – sei es das der Antike oder das seiner Gegenwart – war für Hölderlin tatsächlich ein wichtiger kultureller und literarischer Bezugspunkt, sicher auch so etwas wie eine Sehnsuchtslandschaft. Nicht nur im Nekar, sondern in seinem gesamten Œuvre ist sie sehr präsent; man denke nur an den Briefroman ‚Hyperion‘, dessen Handlung im Griechenland des 18. Jahr­hunderts verortet ist, oder an das Dramenfragment ‚Empedokles‘, das den gleichnamigen Philosophen der griechischen Antike zum Gegenstand hat. Mit dieser seiner Vorliebe stand Hölderlin nicht allein; im Gegenteil – spätestens mit Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) kam die Rezeption der griechischen Antike in Mode. Das 18. Jahrhundert war eine Zeit der Graecophilie, auch der Graecomanie. Allerdings unterschied sich Hölderlin von deren Protagonisten ganz wesentlich: Nahmen letztere die antiken griechischen Mythen mit ihren Göttern ausschließlich als ästhetische Phänomene, als Bildungsgut oder Reservoir literarischer Stoffe wahr, so erlangten jene für Hölderlin noch eine andere, genuin religiöse Bedeutung. Für ihn manifestierte sich in der griechischen Antike eine ‚mythisch-religiöse Geistesart‘ (Rüdiger Safranski), der er existentielle Geltung zuschrieb. Hölderlin ging es nicht nur um die Entschlüsselung ästhetischer Prinzipien und deren Fruchtbarmachung für das eigene künstlerische Schaffen, sondern darüber hinaus um eine Wiederbelebung des Mythos, um die Rückgewinnung des Göttlichen, wie die griechische Antike es verstand. Dabei kultivierte er, ganz ähnlich wie der von ihm verehrte Wilhelm Heinse (1746-1803), eine Vorstellung von dieser Antike, die eindeutig dionysisch akzentuiert war und das Wilde, Elementare, Sinnliche in den Vordergrund stellte. Auch darin unterschied sich Hölderlin von Winckelmann, der die gewissermaßen eingehegte, apollinische Variante bevorzugte.

Im Wissen um diese Geisteshaltung Hölderlins wird man die im Nekar imaginierte Landschaft Griechenlands nicht nur als ein virtuoses Spiel mit historischen oder mythologischen Verweisen lesen, sondern als die eindringliche Beschwörung einer mythischen Vergangenheit verstehen, die mit dem üppigen Naturbild in der siebten und achten Strophe und vor allem der Nennung von Pauk und Cymbel, die Zum labyrintischen Tanze klingen, eben jenes dionysische Element präsent macht. Auch die Rede vom Schuzgott in der letzten Strophe ist mehr als eine gelehrte Reminiszenz – hier formuliert der Dichter die Hoffnung, sein Daimon möge das ihm bestimmte Schicksal so lenken, dass er einst tatsächlich ans imaginierte, ersehnte Ziel gelangt.

Mit den letzten beiden Versen lenkt der Dichter den in die Ferne gerichteten Blick zurück (über die Schulter gleichsam) auf die Heimat – den Nekar mit seinen Lieblichen Wiesen und Uferweiden – und versichert sie seines immerwährenden Angedenkens. So findet die Ode ihr Ende, wo sie begann, oder anders: sie schwingt zwischen Heimat und Ferne, zwischen mythischer Vergangenheit und Gegenwart.

Der Nekar

In deinen Thälern wachte mein Herz mir auf
   Zum Leben, deine Wellen umspielten mich,
      Und all der holden Hügel, die dich
         Wanderer! kennen, ist keiner fremd mir.

Auf ihren Gipfeln löste des Himmels Luft
   Mir oft der Knechtschaft Schmerzen; und aus dem Thal,
      Wie Leben aus dem Freudebecher,
         Glänzte die bläuliche Silberwelle.

Der Berge Quellen eilten hinab zu dir,
   Mit ihnen auch mein Herz und du nahmst uns mit,
      Zum stillerhabnen Rhein, zu seinen
         Städten hinunter und lustgen Inseln.

Noch dünkt die Welt mir schön, und das Aug entflieht,
   Verlangend nach den Reizen der Erde mir,
      Zum goldenen Pactol, zu Smirnas
         Ufer, zu Ilions Wald. Auch möcht ich

Bei Sunium oft landen, den stummen Pfad
   Nach deinen Säulen fragen, Olympion!
      Noch eh der Sturmwind und das Alter
         Hin in den Schutt der Athenertempel

Und ihrer Gottesbilder auch dich begräbt,
   Denn lang schon einsam stehst du, o Stolz der Welt,
      Die nicht mehr ist. Und o ihr schönen
         Inseln Ioniens! wo die Meerluft

Die heißen Ufer kühlt und den Lorbeerwald
   Durchsäuselt, wenn die Sonne den Weinstok wärmt,
      Ach! wo ein goldner Herbst dem armen
         Volk in Gesänge die Seufzer wandelt,

Wenn sein Granatbaum reift, wenn aus grüner Nacht
   Die Pomeranze blinkt, und der Mastyxbaum
      Von Harze träuft und Pauk und Cymbel
         Zum labyrintischen Tanze klingen.

Zu euch, ihr Inseln! bringt mich vieleicht, zu euch
   Mein Schuzgott einst; doch weicht mir aus treuem Sinn
      Auch da mein Nekar nicht mit seinen
         Lieblichen Wiesen und Uferweiden.

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