Ein Manifest für die Einsamkeit

Lesen ist eine gefährliche Tätigkeit. Nicht nur dass sie nur allein, im intimen Zwiegespräch mit einem unbekannten und doch vertraut erscheinenden Autor erfolgen kann – sie verdirbt auch die Maßstäbe für den Umgang mit anderen Menschen.

Die Schriftsteller verwöhnen uns – wenn wir es wollen – Tag für Tag mit den klügsten Gedanken, Überlegungen, Phantasien und Botschaften, derer sie fähig sind. Und sie kredenzen sie uns in einer ausgefeilten, hochgradig ausgearbeiteten Form, die im mündlichen Gespräch niemals zu erlangen ist, selbst wenn der Gesprächspartner von vergleichbarem geistigen Reichtum sein sollte.

Solcherart „verzogen“ wird es dem notorischen Leser anspruchsvoller Literatur zunehmend schwerfallen, den Alltagsgesprächen über Banales, Gewöhnliches, Tragisches, Lächerliches, Sorgenvolles aus dem Leben der Mehrheit seiner Umfeldmenschen etwas abzugewinnen. Er langweilt sich schnell mit ihnen und fängt irgendwann an, ihnen aus dem Weg zu gehen, weil ihm das neue Auto, die angesagtesten Szene-Kneipen und die Warenpreise bei den verschiedenen Händlern nicht der Rede wert sind und er zu den Sendungen im Privatfernsehen ohnehin nichts beisteuern kann, da er selbige aus Prinzip nicht in sein Leben läßt.

Anfangs versucht er noch, seine Mitmenschen mit kleinen Provokationen und neugierig-geschickten Fragen aus der Reserve zu locken, sie dazu zu verführen, ihm ihre Gedanken, ihre Weisheiten anzuvertrauen. Doch wenn er zu oft statt des originellen Blicks auf Plattheiten gestoßen ist und sein Gesicht einmal zuviel unter Kontrolle gebracht hat, damit es den von geistigen Tiefschlägen verursachten Schmerz nicht verrät, gibt er auf.

Die Literatur hat ihn anspruchsvoll gemacht, zu anspruchsvoll, um noch als gemütvoller Zeitgenosse dienen zu können. So anspruchsvoll, dass – in klassischer Selbstläufigkeit – auf Dauer nur noch Bücher jene Bedürfnisse befriedigen können, die sie einst geweckt haben.

Wollt Ihr lebenstüchtig bleiben und schlau und aller Welten Freund: wehret den Anfängen! Meidet Bücher! Sie sind ein Gift, das Euch schleichend aus dem Verkehr zieht, das Euch die leibhaftigen Menschen vergällt und verachten lässt und Eure tiefe Liebe an Menschen vergeuden, die Ihr in den meisten Fällen niemals in Eurem Leben treffen geschweige denn kennenlernen werdet.

Ihr sprecht mit Toten wie Sartre, Jünger, Canetti, Fontane, Strindberg, Faulkner, Dostojewski, Kafka oder Thomas Bernhard, Ihr dringt in ihr Leben ein, um sie noch besser zu verstehen, um ihnen noch näher sein zu können, vielleicht schreibt Ihr ihnen sogar Briefe, die Ihr natürlich nie absendet, denn das Geistreich hat keine Postleitzahl.

Oder Ihr lest Interpretationen ihrer Texte, sucht nach Lesarten, um herauszufinden, welche genau die Botschaft des verehrten Dichters gewesen sein mag. Dabei stehen an den Straßenecken Menschen aus Fleisch und Blut, die Euch etwas erzählen könnten (falls sie nicht im Smartphone oder hinter Kopfhörern verschwunden sind) – natürlich nicht in der Form, die Euch die als Seelenverwandte  Empfundenen bieten. Aber soll die Ästhetik Euch einsam machen? Die Armen im Geiste verstehen sich mit jedermann. Und Ihr wollt nur noch mit den Toten reden?

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