„Die Poesie ist ein Ort der punktuellen Erlösung“ – Im Gespräch mit Rüdiger Safranski

Das 250. Hölderlin-Jubiläum wird groß gefeiert. Zahlreiche Bücher und Artikel sind über Werk und Wirkung des Dichters erschienen. Heraus ragt die Biographie von Rüdiger Safranski, der bekannt ist für seine eindrücklichen Porträts deutscher Geistesgrößen. Das Besondere an Safranskis Zugriff auf Hölderlin liegt in seinem Bestreben, die Kraft der Poesie in den Mittelpunkt zu stellen, ohne sich in akademischen Sekundärdiskussionen zu verzetteln. Es ist die Schönheit der Sprache, die begeistert.

Wir sprachen mit Rüdiger Safranski über Hölderlins Rückbindung an die griechische Antike, seine metaphysische Obdachlosigkeit, die Poesie als ein zeitloses Potential des Menschen, die Frage, wie Hölderlin die deutsche Sprache zu neuen Höhepunkten geführt hat und letztlich, warum sich die aktuelle Situation als gute Stunde für die Literatur erweisen könnte. Ein Gespräch, das Räume öffnet und Fronten klärt.

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Lieber Herr Safranski, möchten Sie uns zu Beginn einen Hölderlin-Vers nennen, der Ihnen auf Ihrem Lesensweg den größten Eindruck hinterlassen hat?

Wunderbar sind die ersten Verse von ,An die Parzen‘: Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen! / Und einen Herbst zu reifem Gesange mir, / Daß williger mein Herz, vom süßen / Spiele gesättiget, dann mir sterbe.

Von wann datiert Ihr erster Kontakt zu Versen Hölderlins, wann hat Hölderlin Sie das erste Mal gepackt?

Kurz vor meinem Abitur, im Jahr 1963, hatte ich einen großartigen Deutschlehrer, der auch Philosophiekurse gegeben hat. Er erzählte mir von einem Vortrag Heideggers. In einer kleinen Hütte hatten sich mehrere Hörer versammelt, Heidegger selbst war noch nicht da. Dann ging die Tür auf und aus dem Schneegestöber der Nacht kommt Heidegger herein. Er hatte sich wegen des Schnees verspätet, zieht seinen Mantel aus und schüttelt ihn, sodass sich auch der Innenraum in ein Schneegestöber verwandelte. Er fing dann an mit seinem Vortrag über Hölderlin. Da hörte ich zum ersten Mal den Namen. Das hat sich mir sehr tief eingebrannt: Heidegger aus der Winternacht, Schneegestöber, Hölderlin.

Also machte sie nicht Heidegger aufmerksam auf Hölderlin, sondern eher das Bild?

Geschichten laufen sehr oft über Bilder. Hölderlin war für mich vorher ebenso unbekannt wie Heidegger selbst. Auf einmal waren sie beide da.

Über beide haben Sie bereits ein Buch verfasst. Und überhaupt steht ihr ganzes Leben im Zeichen der deutschen Geisteswelt. Biographien haben Sie außerdem über Goethe, Schiller, E.T.A. Hoffmann und Nietzsche geschrieben. Sie kommen durch diese intensive Beschäftigung den Protagonisten noch einmal auf eine andere Art und Weise näher, als es der gemeine Leser tut. Welche dieser Größen steht Ihnen persönlich am nächsten?

Eine persönliche Beziehung habe ich natürlich zu allen, allein schon deshalb, weil man einen Teil seines Lebens mit ihnen zusammen verbringt. Ganz besonders möchte ich aber E.T.A. Hoffmann hervorheben. Diese Nähe hat einen speziellen Grund: Hoffmann war ja ein Meister der Romantik, ein Meister der abgründigen Phantasien, ja des phantastischen Exzesses. Gleichzeitig war er ein sehr vernünftiger Jurist, sehr liberal und realitätsbezogen. Man muss in mehreren Welten Leben können und das hat E. T. A. Hoffmann wunderbar vorgelebt: Hoffmann als Virtuose des Doppellebens, das hat mich fasziniert.

Hier gehts zur Rezension.

Damit ist er sicherlich eine Gegenfigur zu Hölderlin.

Hölderlin hat monomanisch auf die Poesie gesetzt – das ist es, was seine Größe aber auch seine Tragik ausmacht. Ich möchte aber noch eine weitere Person hervorheben, die mich sehr begeistert hat, und das ist der große Schiller. Es ist hinreißend, einen Menschen zu verfolgen, der so sehr aus dem Freiheitswillen heraus gelebt hat. In all seinen Projekten, egal ob als Dichter, als Mensch oder als Theoretiker. Man muss schon sehr dickfellig sein, wenn man nicht von seinem Enthusiasmus mitgerissen wird.

Dazu erzählen Sie in Ihrer Schiller-Biographie eine schöne Anekdote.

Schiller war sehr krank und als er starb sagte der Herzog, wir schneiden ihn jetzt auf, damit wir einmal sehen wie krank er wirklich war. Als sie ihn dann aufgeschnitten hatten verkündet der Arzt, dieser Mann hätte schon vor zehn Jahren tot sein müssen. Hieraus hat sich meine erste Definition des Idealismus ergeben: Idealismus ist, wenn man durch den Schwung seiner Begeisterung länger lebt als es der Körper eigentlich erlaubt.

Welche Rolle nimmt Hölderlin im Kreis des Idealismus ein?

Hölderlin war immer der Schatten am Rande. Aber er hat uns ein paar der schönsten Gedichte hinterlassen, die es in der deutschen Sprache gibt. Insgesamt ist er aber doch eine tragische Figur. Eine Figur, die in einem gewissen Sinne auch gescheitert ist. Wenn ich bei Schiller das Mitreißende betont habe, so müsste es bei Hölderlin das Mitgefühl sein, das ist im Hintergrund schon da.

Hölderlin hat nicht im naiven Sinne an die antiken Götter geglaubt. Er hatte eine Art pantheistisches Naturgefühl: Wenn wir uns mit der göttlichen Natur in Verbindung setzen, kommen wir auf Sinn- und Glücksquellen.

Man bekommt allein durch die Vielzahl von Publikationen, die erschienen sind, den Eindruck, dass man anlässlich des 250. Hölderlin-Jubiläums von einer Renaissance seines Werks sprechen könnte. Welche Lektüre empfehlen Sie jenen Lesern, die bisher noch keinen Kontakt zu Hölderlin gehabt haben, sich ihm aber gerne annähern würden?

Als erstes würde ich da Hyperion nennen. Da schreibt Hölderlin in einer sehr zugänglichen und zauberhaften Prosa, das ist fast ein Prosa-Gedicht. Aber auch ein paar Gedichte gibt es, die sich sofort einprägen: ;Die Hälfte des Lebens‘, ,Die Eichbäume‘, ,An die Parzen‘ und ,Abendphantasie‘. Hier erfährt man den ganzen Zauber der Hölderlinschen Lyrik.

Ein Bezugspunkt durchzieht das Ganze Schaffen Hölderlins: Die griechische Antike, besonders ihre Götterwelt. Was ist das Besondere an Hölderlins Beziehung zur Antike im Vergleich zu seinen Zeitgenossen? Die Antike als Referenzrahmen war nicht neu.

Seit Winckelmann war die griechische Antike für deutsche Dichter, Denker und gestaltende Künstler ein großes Vorbild. Man hat das bewundert. Insgesamt war es aber ein artistisches-ästhetisches Verhältnis, das war bei Hölderlin anders und deshalb wurde er auch in der damaligen Szene etwas auf Abstand gehalten.

Wie lässt sich dieses besondere Verhältnis Hölderlins kennzeichnen? In Ihrer Biographie schreiben Sie von einer „mythisch-religiösen Geistesart“, die eine „existenzielle Bedeutung“ für Hölderlin gewinnt.

Er war davon überzeugt, dass wir im Abendland, im Zeichen der Aufklärung und des Rationalismus und durch den Bedeutungsverlust des Christentums, in eine Phase des Nihilismus eintreten, in eine Substanzlosigkeit, in eine metaphysische Obdachlosigkeit. Hölderlin fand Quellen des neuen-alten Sinns in der griechischen Antike. Er hat diese Verbindung sehr ernst genommen.

Wie hat man sich diese Beziehung zu den antiken Göttern vorzustellen?

Hölderlin hat nicht im naiven Sinne an die antiken Götter geglaubt. Er hatte eine Art pantheistisches Naturgefühl: Wenn wir uns mit der göttlichen Natur in Verbindung setzen, kommen wir auf Sinn- und Glücksquellen. Eine Naturfrömmigkeit einerseits und das Göttliche in uns selbst andererseits. Letzteres findet man vor allem in den Momenten, wo wir große, gesteigerte Augenblicke erleben. Sei es in der Freundschaft, in der Liebe, in Gemeinschafts- und Naturerlebnissen. Da steigert sich etwas in uns und wir merken, das Leben kann göttliche Qualitäten annehmen. Diese Momente sind nur von kurzer Dauer, sie sind plötzlich und sie sind auch begrenzt. Das ist allerdings nicht einfach der Jenseitsglaube, sondern die erfahrene Steigerung des Lebens. Diese Erfahrung lässt sich im Hölderlinschen Sinne als göttlich bezeichnen.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Als Hölderlin an seinen Bruder schreibt, zu dem er ein ganz großes Vertrauen und eine große Verbundenheit spürt, schreibt er: „Es ist, als wäre ein Gott zwischen uns.“ Diese Steigerung des Erlebnismoments bezeichnet gewissermaßen den Gott der Freundschaft. Deshalb werden wir bei Hölderlin sehr viel häufiger den Ausdruck göttlich als Götter finden. Mit dem christlichen Monotheismus hat das wenig zu tun, der war ihm viel zu moralisch. Er suchte nach einer anderen Art des Religiösen, der nicht diese pietistische Strenge, die bloß moralisierende Art innewohnte, wie er sie auch von Zuhause oder im Tübinger Stift erlebt hatte. 

Die Poesie ist selbst ein Ort der punktuellen Erlösung, sie ist ein Ort des Ankommens. Deshalb nenne ich Hölderlin auch einen „Priester der Poesie“, denn die Poesie war für ihn eine Art Heiligtum.

Welche Rolle nimmt Hölderlins Lyrik in diesem Zusammenhang ein? Wohnt ihr das Potential inne, ebenfalls Wege zum Göttlichen hin zu ebnen?

Hölderlin war überzeugt, dass die Poesie der Ort sei, an dem diese eigentlich vergänglichen Augenblicke in einem zarten Wortgeflecht aufbewahrt werden können. Die Poesie ist ein Organ für das Erfahren, Formulieren und Festhalten von solchen Momenten der Gelungenheit. Die Poesie ist selbst ein Ort der punktuellen Erlösung, sie ist ein Ort des Ankommens. Deshalb nenne ich Hölderlin auch einen „Priester der Poesie“, denn die Poesie war für ihn eine Art Heiligtum. So hat er sie gepflegt, da war für Hölderlin kein Platz für Ironie.

Wie schätzen Sie Hölderlins Spätwerk ein, die Verse des „wahnsinnigen“ Scardanelli? Sind auch diese Gedichte noch künstlerisch wertvoll oder nur mehr Produkte des geistigen Verfalls?

Das kann man so pauschal nicht sagen. Es gibt ein sehr großes Gefälle in diesen Gedichten, unter denen es aber auch sehr schöne gibt, etwa „Der Spaziergang“, mit solchen Versen wie „Ihr Wälder schön an der Seite, / Am grünen Abhang gemalt, / Wo ich umher mich leite, / Durch süße Ruhe bezahlt / Für jeden Stachel im Herzen“; doch es gibt auch in ihrem Klappern ergreifende Gedichte, wie etwa: „Das Angenehme dieser Welt hab‘ ich genossen, / Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! verflossen, / April und Mai und Julius sind ferne, / Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne!“ Man merkt schon, das sind nicht mehr die frei schwingenden Rhythmen, es wird ziemlich streng. Mörike beispielsweise war ein großer Freund dieser späten Gedichte.

Es gibt verschiedene Theorien über Krankheiten, die Hölderlin ereilt und seinen geistigen Verfall bedingt haben sollen; bekannt ist aber auch Pierre Bertaux’ These geworden, nach der Hölderlin seine Geisteskrankheit nur vorgespielt habe. Was halten Sie für plausibel?

Sicherlich hat Bertaux die Hölderlinforschung nach vorne getrieben. Es wird aber wohl eher so gewesen sein, dass er es nicht ertragen konnte, dass sein Hölderlin auf einmal verrückt geworden sein sollte. Er hat dann diese Theorie in den Raum gestellt. Ich würde hingegen sagen, dass man solche Zustände über einen Zeitraum von 36 Jahren kaum simulieren kann. Hölderlin war gewiss marginalisiert, reduziert, jedoch bestimmt nicht dement. Er wusste noch, dass er Hölderlin war – insofern ist diese Scardanelli-Sache auch Inszenierung. Letztlich hat er aber weiterhin genau das gemacht, was er auch vorher schon getan hatte: sein Leben auf die Poesie gerichtet.

Wenn man es so betrachtet, dann scheint die Zäsur von 1806 für einen Moment weniger hart. Einen früheren Bruch in Hölderlins Biographie markiert das fluchtartige Verlassen der Stadt Bordeaux. Können Sie eine Erklärung geben, warum er die Stelle als Hauslehrer dort aufgab und nach Deutschland zurückkehrte?

Es gibt eine ganze Reihe von plötzlichen Aufbrüchen, von Fluchten, bei denen man nicht genau weiß, was im Vorfeld passiert ist und wie es dazu kam. Das war übrigens auch schon im Mai 1795 in Jena der Fall, von wo Hölderlin plötzlich verschwand, obwohl er dort das philosophische Gravitationszentrum seiner Zeit vorgefunden hatte. Beim Verlassen von Bordeaux ist das ähnlich. Was man definitiv weiß, ist, dass er es bei dem Weinhändler Meyer eigentlich ganz gut getroffen hatte. Dort kommt übrigens zwei Jahre später Schopenhauer mit seiner Familie unter – auch wieder eine Ironie der Geschichte. Jedenfalls reist er nach ein paar Monaten plötzlich ab. Man kann das nicht bündig beurteilen.

Er schreibt von dieser Zeit in Bordeaux auch einmal, dass ihn Apoll geschlagen habe. Man kann sich durchaus vorstellen, dass er wiederum besondere Inspirationen hatte, die an die Grenze des Erträglichen gingen, sodass sie ihn aus der Bahn geworfen haben könnten. Der Kontrast zwischen den Momenten der Erleuchtung, des poetischen Gelingens und dem Absturz in die Normalität, den Alltag, scheint hier besonders groß zu sein. Diese zerreißende Spannung vermochte er immer seltener auszuhalten. Daraus könnte sich ein Schub der Depression entwickelt haben, der ihn fortgetrieben hat.

Wie eng ist Hölderlins Verbindung mit dem Deutschen Idealismus? Muss man die prägenden Philosophen gelesen haben, um Hölderlin zu verstehen?

Sicherlich muss man sie nicht kennen, aber man gewinnt dadurch, wenn man weiß, was in diesem Kreis um Hegel und Schelling gedacht wurde. Das ist ja der Gründungsmoment dessen, was man dann ‚Deutschen Idealismus‘ genannt hat. Vieles, was Hölderlin geprägt hat, kommt aus diesem geistigen Milieu: beispielsweise, dass man keine Offenbarung braucht, um einen Zugang zur Transzendenz innerhalb des Lebens zu erreichen, die erweiterte Vernunft schafft das selbst. Man muss nur tief genug in sich gehen, dann wird es heiß, dann stößt man auf das Göttliche. Dieser philosophische Gedanke kursierte.

Hölderlin sagte sich dann bewusst von diesem Kreis los.

Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass Hölderlin, um Dichter zu werden, das Gefühl hatte, er müsse einen Schritt weitergehen als die befreundeten Philosophen. Sie glaubten das Absolute, das Göttliche eben im Denken ergreifen zu können. Davon war Hölderlin zu Beginn schon nicht überzeugt und im Laufe der Zeit immer weniger. Er sagt vielmehr, wir müssen auf unsere Emotionalität, unsere Empfindungen hören, erst durch die ganze Person mit allen ihren geistigen Kräften ist der Mensch in der Lage, das Göttliche zu erfassen, in sich selbst und um sich herum. Diese Emanzipation von der Philosophie, die sich auf die Vernunft beschränkt, war für Hölderlin notwendig. Hölderlin war ein Poet, der durch die Philosophie hindurchgegangen ist, aber eben auch ein Poet, der sich von der Philosophie befreien musste.

Hat jeder Mensch diese Fähigkeit, sich tief von der Poesie berühren zu lassen?

Hölderlin benutzt den Ausdruck vom „Gott in uns.“ Natürlich verliert man durch die umgebende Kultur und Gesellschaft den unmittelbaren Zugang, aber potenziell trägt sehr wohl jeder Einzelne diese Möglichkeit in sich.

Wenn das Gedicht gelungen ist, erleben wir selbst in ihm eine Verwandlung und wenn wir Glück haben, bleibt etwas davon erhalten, auch wenn das poetische Ereignis, an dem wir teilhaben, vorbei ist.

Zurück zur Lyrik. Was ist das Neue oder gar „Moderne“ an Hölderlins Dichtung? Trotz seiner Wertschätzung wollte etwa Stefan George die ‚dunklen und gesprengten silbenmaasse‘ Hölderlins nicht als Vorbild für junge Lyriker verstanden wissen.

Einerseits kann man schon sagen, dass mit Hölderlin die freien Rhythmen in die deutsche Poesie kamen. In seinen Jugendgedichten, wo er noch sehr stark unter Schillerschem Einfluss stand, hat er anfangs sehr akademisch und formal präzise gedichtet. Erst der mittlere und späte Hölderlin kommt dann zum großen Atem der freien Rhythmen, der die Poesie nachhaltig beeinflusst hat.

Es gilt aber noch einen zweiten Aspekt hier anzuführen: die Autonomie. Für Hölderlin war ganz klar: was im Gedicht lebt, das lebt zunächst einmal allein dort. Wir dürfen nicht den Fehler begehen, irgendein Gefühl jenseits des Gedichts zu nehmen und es so aufzufassen, als hätte der Dichter bloß die Empfindung ins Literarische überführen wollen. Wenn Hölderlin die Antike beschwört, wie beispielsweise im Archipelagus, dann kommt mit einem Mal etwas zum Vorschein, was wir weder auf der Landkarte noch in den Geschichtsbüchern über die griechische Antike finden können. Sondern es ist allein das, was in diesem Gedicht lebt – das heißt Autonomie. Das Gedicht ist ein in sich geschlossener Sinnbezirk, in den wir eintreten können, ja den wir sogar bewohnen können. Allerdings sollten wir nicht so tun, als gäbe es auch Zugänge außerhalb des Gedichts.

Hier berühren wir wieder die Frage nach dem religiösen Charakter der Verse Hölderlins.

Man kann sich das vorstellen wie bei der katholischen Kirche mit der Wandlung, die ein heiliger Akt ist. Was in diesem rituellen Vorgang geschieht, lebt nur in diesem Augenblick – und ebenso verhält es sich mit der Autonomie der Poesie, wie sie Hölderlin verstanden hat. Wenn das Gedicht gelungen ist, erleben wir selbst in ihm eine Verwandlung – und wenn wir Glück haben, bleibt etwas davon erhalten, auch wenn das poetische Ereignis, an dem wir teilhaben, vorbei ist.

Hölderlin, Deutschland und die Deutschen – ein heute zumeist gemiedenes Thema: Gibt es in Hölderlins Dichtung Anklänge, die ihn aus heutiger Sicht zu einem Fürsprecher der nationalen Idee machen würden?

Dass für Hölderlins Lebenszeit von der Nation im modernen Sinn die Rede nicht sein kann, müssen wir hier nicht ausführen. Seine berühmte Ode ,Der Tod für das Vaterland‘, die von den Nationalsozialisten chauvinistisch ausgelegt wurde, ist 1799 entstanden, in einer Zeit also, da die Möglichkeit eines demokratischen Umschwungs, die Gründung einer schwäbischen Republik für Hölderlin gegeben schien. Das war der Traum der Jakobiner in Deutschland. Ein solches Vaterland hat Hölderlin im Sinn, wenn er schreibt, dass es sich dafür zu sterben lohne. Das hat mit Nationalismus und Chauvinismus wenig zu tun. Aber natürlich liebt er sein Land in einem grundsätzlicheren Sinne, er hat wunderbare Gedichte auf den Rhein und den Neckar verfasst. Er weiß vom Genius der Landschaft, der sich atmosphärisch offenbart – davon ist er immer wieder in einem ganz hohen Maße berührt.

An dieser Stelle sei noch ‚Der Ister‘ genannt. Hölderlin denkt an die Donau und sieht den großen Fluss, der im schwarzen Meer mündet und somit die Verbindung zum antiken Gebiet herstellt. Der Brückenschlag zwischen der eigenen Heimat und der Antike ist für ihn durch die Donau unmittelbar gegeben, dort ist sein eigentliches Vaterland.

Rüdiger Safranski (Foto.pivat).
Rüdiger Safranski (Foto: privat).

Während ihrer Festrede im Vorfeld der Geburtstagsfeierlichkeiten führte Kulturstaatsministerin Monika Grütters im Tübinger Stift die Stellung von Hölderlins Werk als ‚Weltlektüre‘ an, um den Dichter für immun zu erklären gegenüber einer kulturellen Renationalisierung, die in Europa vonstattengehe. Stimmen Sie zu?

Zumindest kann Frau Grütters wirklich etwas mit Büchern anfangen. Es ist allerdings eine ziemlich defensive Formulierung. Natürlich war Hölderlin ein welthaltiger Dichter, doch ist er nicht bloß deswegen und darin so groß, sondern auch und vor allem, weil er der deutschen Sprache neue Horizonte eröffnet hat. Diese defensive Art, mit der man peinlich berührt über Hölderlins Deutschsein hinweggehen möchte, kann ebenso wenig der richtige Zugang sein wie chauvinistische Vereinnahmung. Hölderlin ist beides: ausladend welthaltig und doch auch auf eine ganz wunderbare Art und Weise deutsch.

Die Gräben, die durch das politisch aufgeheizte Klima auch auf dem Gebiet der Kultur gerissen werden, machen es nahezu unmöglich, die Künste länger als verbindendes Element einer Gesellschaft anzusehen, geschweige denn sie als Refugium zu verteidigen. Kann aber große Lyrik überhaupt politisch sein?

Schaut man genauer hin, ist Lyrik immer irgendwie politisch. Aber Lyrik tut nicht gut daran, sich unter das Primat der Politik zu stellen. Die Politik kann, so zentral sie als Feld auch ist, nicht die Instanz sein, vor der sich alles andere zu rechtfertigen hat. Die Poesie ist deswegen so kostbar, weil Dinge in ihr einen Ausdruck finden, den sie nirgendwo sonst fänden. Ich wäre sogar geneigt zu sagen, dass ein ganz wesentliches Merkmal von Humanität verschwände, wenn wir unempfänglich würden für Dichtung und Kunst.

Mit dieser Haltung zu Literatur und Politik gehören Sie wahrscheinlich nicht zu denen, die von politischen (Fehl-)Urteilen eines Dichters die eigene ästhetische Beurteilung seiner Verse abhängig machen.

Sicherlich nicht. Denken Sie nur an Gottfried Benn und seine zeitweilige Verfehlung in den 1930er Jahren – die Bennsche Lyrik ist für mich dadurch nicht kontaminiert. Anders verhielte es sich, wenn wir auf Propaganda-Gedichte zu sprechen kämen – sowas gibt es ja auch.

Wie verhält es sich mit Benns Zeitgenossen und politischem Antipoden Bertolt Brecht?

Brecht hat wunderbare Gedichte verfasst, auch wenn er sentenziös sehr starke politische Botschaften transportiert hat. Auf die darf man durchaus politisch reagieren, dann antwortet man eben mit politischem Ton auf das politisch Gemeinte. Wenn Sie aber beispielsweise ,Erinnerung an Marie A.‘ nehmen – da rückt Politik doch fern.

Im Umfeld Hölderlins versuchte man durch die Literatur eine inspirierende Kraft auszustrahlen und den Sinn für Wunderbares, Geheimnisvolles zu schärfen. Wenn wir hingegen heutzutage auf die Bestsellerlisten oder die Sujets blicken, die in den Medien vorrangig behandelt werden, scheint uns dieser Anspruch abhandengekommen zu sein.

Literatur hat ihren Charme, weil man beim Lesen in der Regel allein ist. Mit einer Handvoll Worten erzeugen wir ein Zauberreich in unserem Kopf – jeder Einzelne für sich. Wenn man sich diese Abläufe klarmacht, müsste man im Grunde sagen, dass Literatur die Fähigkeit und Bereitschaft zur Einsamkeit voraussetzt. Zumindest muss man zeitweise allein sein können, um sich selbst die Chance zu eröffnen, von Literatur wirklich berührt zu werden.

Gegenwärtig steht die Welt still, die Menschen bleiben in ihren Wohnungen und sind nun unweigerlich mit sich allein. Werden also gerade womöglich jene Chancen eröffnet, von denen Sie sprechen?

Der augenblickliche Ausnahmezustand könnte sich tatsächlich als gute Stunde für die Literatur erweisen – hoffen wollen wir es allemal.

Da Sie von Chancen sprechen und nicht erdrückend kulturpessimistisch klingen dabei: welche zeitgenössischen Lyriker schätzen Sie?

Ich schätze meinen ehemaligen Verleger, Michael Krüger, der wunderschöne, lakonische Gedichte gemacht hat. Ich schätze aber auch den Holländer Cees Nooteboom, ebenso Enzensberger und seine pointierte Gedankenlyrik. Aus der Generation davor ist mir Günter Eich der allerliebste.

… wie verhält es sich mit zeitgenössischer Prosa?

Peter Handke und Lutz Seiler wären hier zu nennen, das sollte genügen.

In seiner Ode ‚An die Deutschen‘ fragt sich Hölderlin: „Aber kommt, wie der Strahl aus dem Gewölke kommt, / Aus Gedanken vielleicht, geistig und reif die Tat? / Folgt die Frucht, wie des Haines / Dunklem Blatte, der stillen Schrift?“ Welche Frucht, welchen Strahl erwarten oder wünschen Sie für die Zukunft aus Hölderlins stiller Schrift?

Es gibt einen schönen Satz aus der Patmos-Hymne: ,Nah ist / und schwer zu fassen der Gott, / wo aber Gefahr ist, / wächst das Rettende auch.‘ Daran sollten wir uns halten.

Lieber Herr Safranski, wir danken für das Gespräch.

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Prof. Dr. Rüdiger Safranski, Schriftsteller und Philosoph. Geb. 1945 in Rottweil/Württemberg. Studium der Germanistik, Philosophie, Geschichte und Kunstgeschichte in Frankfurt am Main und Berlin. Lebt als freier Schriftsteller in Berlin und Badenweiler.

Verleihung des Professorentitels durch den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg (2005). Verleihung des Bundesverdienstkreuzes,  Erster Klasse (2009).

Von 2002 bis 2012 Gastgeber und Moderator (zusammen mit Peter Sloterdijk) der ZDF- Sendung  „Philosophisches Quartett“. Honorarprofessur für Philosophie an der FU Berlin (2011). Ehrendoktor der Universität Tiflis, Georgien (2014).

Hier geht es zu Safranskis Hölderlin-Biographie.

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Das Gespräch führten Tano Gerke und Jonas Maron mit Rüdiger Safranski per Telefon. Ein vereinbartes Treffen in Berlin fiel den Quarantäne-Maßnahmen zum Opfervorerst.

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