Die Brüchigkeit begradigter Lebenswelten – Erinnerung an Nicolas Born

Die 70er Jahre der Bundesrepublik sind geprägt von einer gähnenden Langeweile und allgegenwärtigem Spießertum. Für den Schriftsteller Nicolas Born ist das Zeitgeschehen der Stoff für seine Romane. Durch die literarischen Schilderung von Nicolas Born lässt sich erahnen, wie es anders sein könnte. Erinnerung an einen Rilke-Preisträger, der mit Ideologien nichts zu tun haben wollte.

In der Laudatio auf Nicolas Born sprach der Schriftstellerkollege Christoph Meckel am 4. Dezember 1979 davon, dass der damals schwer an Krebs erkrankte Geehrte zur „Erkenntnis wachsender Vernichtung von Zukunft“ durchgedrungen sei. Doch wie war das genau gemeint?

Viel Zukunft ist tatsächlich nicht im Werk von Nicolas Born (1937-1979), viel eher eine geschärfte Gegenwärtigkeit, eine schmerzhaft luzide Geistes-Gegenwart bei relativer, äußerer Ereignislosigkeit. Die Welt, zumal die bundesdeutsche der 70er Jahre , die Born immer wieder beschreibt, war endgültig zum Alltag geworden. Eine Normalität hatte sich breit gemacht, deren plakativer Langeweile und aufgeklärter Spießigkeit sensible Geister nicht über den Weg trauen wollten. Als Nicolas Born zu seinem Bewusstsein als Schriftsteller erwacht, ist vieles schon vorbei oder gerade dabei zu verschwinden.

Vom Klischeeätzer zum Seismografen

Als Klaus Jürgen Born 1937 im Ruhrgebiet, dem „schwarzen Arschloch Europas“, so Born in einem Brief, geboren wurde, ist Wirklichkeit die erste und prägendste Schule, in die er geht. Vor allem wird sie ihm zu einer Schule des Hinsehens und der Wahrnehmung. Sein Vater, nach dem Krieg zum Hilfsarbeiter degradiert, kann das Schulgeld für das Gymnasium nicht aufbringen und so macht der Sohn eine Ausbildung zum Chemigrafen, einem heute von digital arbeitenden Mediengestaltern verdrängten Beruf. Dadurch entkommt den beengten Wohn- und Denkverhältnissen im Ruhrpott.

Seiner Korrespondenz mit dem Lyriker Ernst Meister ist es zu danken, dass er Eingang in die Welt der Literatur erhält. Von seinem Mentor wird er, der sich immer zuerst als Lyriker verstand (noch 2005 wird er postum den Peter-Huchel-Preis erhalten), nach eigener Aussage „die Genauigkeit und die Unsicherheit der Sprache“ lernen. Nicolas Born ist über weite Strecken Autodidakt, der sich darum auch keiner Gruppierung oder Strömung zuzurechnen oder verpflichtet weiß. Am allerwenigsten jedoch sieht er sich als typischer Arbeiterdichter mit sozialpolitischer Mission.

1964 begegnet der nachdenkliche junge Mann dem Lektor des Kölner Kiepenheuer&Witsch Verlages Dieter Wellershoff, der vom ersten Manuskript fast ein wenig contre coeur fasziniert ist. Mit Dieter Wellershoff, der selbst als Romanautor hervortritt, verbindet sich das Etikett „Kölner Schule“. Mit diesem Etikett wird eine lockere Gruppierung von sechs mehr oder weniger jungen Autoren, darunter Borns Freund und Antipode Rolf Dieter Brinkmann, versehen, die der Verlag werbewirksam als Denkschule eines neuen, nicht ideologischen Realismus präsentieren möchte. Es stimmt zwar, dass es vor allem Wellershoffs Überlegungen sind, die um „neue Aufmerksamkeitsgrade“ (Wellershoff) gegenüber der vermeintlich banalen Lebenswirklichkeit kreisen, doch verbindet sich damit keinerlei Lehrgebäude, für das diese Autoren gleichsam als Sprachrohre fungierten. Im Gegenteil: die Absage an Ideologie am Ausgang der 68er Umbrüche äußert sich in der Zwanglosigkeit des gemeinsamen Austauschs.

Nicolas Born geht seinen Weg, wird zu einem Treffen der Gruppe 47 nach Schweden geladen, ist 1972/73 Stipendiat der Villa Massimo in Rom, wo es zu legendären Auseinandersetzungen mit dem impulsiven wie genialen Rolf Dieter Brinkmann kommt. Born sich einen Namen im Literaturbetrieb der 70er Jahre; heute verleiht das Land Niedersachsen einen Nicolas-Born-Preis. Seine Tochter Katharina erinnert sich später: „Mein Vater war immer stolz darauf, dass er vom Schreiben leben konnte“.

Der Seismograf für die Dissonanzen und Haarrisse im äußeren wie inneren Leben besitzt darüber hinaus eine integrative Ausstrahlung. Nicolas Born zählt so unterschiedliche Kollegen wie Hannelies Taschau, Günter Grass, Günter Kunert oder Peter Handke zu seinen Freunden. Das Hinschauen auf die Brüchigkeit, auf die Abgründigkeit von scheinbar endgültig begradigten Lebensabläufen war bei ihm nicht allein auf das Schreiben beschränkt. Gegen Ende seines Lebens engagiert sich Nicolas Born in seiner Wahlheimat, dem niedersächsischen Wendland gegen das atomare Zwischenlager in Gorleben.

Die Innenseite der Außenseite

Der Durchbruch als Romanautor gelingt Born mit seinem Werk „Die erdabgewandte Seite der Geschichte“, das Marcel Reich-Ranicki kurzerhand zum literarischen Ereignis des Jahres 1976 erhebt. Darin ist ein Ich-Erzähler aufmerksamer Beobachter der Wirkungen von Wirklichkeit, auf sich selbst wie auf seine Umwelt. Historisch verortet ist der Roman im Westdeutschland der beginnenden 68er Unruhen. Die legendäre Anti-Schah-Demonstration 1967 in Westberlin, in die der Protagonist hineingerät, wird zwar anschaulich beschrieben, doch bleibt die Zeitgeschichte allenfalls Kulisse. Eine Rolle spielt sie nicht. Es wird auch nicht wirklich eine Geschichte erzählt, viel eher hat man den Eindruck, die vorkommenden Personen suchen selbst ihre eigene Geschichte inmitten der Ereignisschwäche, die um sie herum vorherrscht.

Der Ich-Erzähler findet sich in einem verwirrenden wie lähmenden Beziehungsgeflecht wieder, das aufzulösen oder auch nur zu begreifen ihm unmöglich ist. Das Verhältnis zu seiner Freundin Maria, zu seiner Geliebten Linda, Marias Schwester, zu seinem Freund Lasski, zur Mutter seiner Tochter Ursel sowie zu Ursel selbst sind voll schmerzhafter Ambivalenzen, über die sich der Ich-Erzähler klar zu werden versucht. Er verfällt in Suchtverhalten und wird immer wieder mit den dunklen Seiten seines Charakters (eigentlich ist er passiv-aggressiv) konfrontiert. Im denkenden Beschreiben seiner inneren Wirklichkeit stößt er zudem auf Entsprechungen in der Außenwelt. Nicht nur ist im Winter alles gefroren und taut dann bei den ersten Sonnenstrahlen zu Matsch (Born zieht es vor, seine Romane im Winter beginnen zu lassen), auch das Leben scheint erstarrt und gefroren.

Einmal werden Schaufensterpuppen beschrieben, die in ihren innehaltenden Bewegungen, eine „unheimlich verbindliche Abwesenheit“ verkörpern, wie sie ebenso für alle gilt, die an den Schaufenstern vorbeilaufen. Wirklichkeit ist zu einem Arrangement geworden, welches das verdecken soll, was eigentlich wirken möchte. Auch der künstlerische oder ideologische Zugriff auf Wirklichkeit ändert daran nichts, macht aus ihr allenfalls eine „verfilmbare Wirklichkeit“. Wirklichkeit wird zum Amüsement, zur Unterhaltung. Einzig in seiner minderjährigen Tochter Ursel versucht die Hauptfigur immer wieder zu einer Ursprünglichkeit zurückzufinden. Ausgerechnet in das Trennungskind projiziert der Vater seine Sehnsucht nach Geborgenheit und muss sich doch immer wieder sagen: „Jeden Tag nahm ich Ursel das, was ich ihr nicht gab“. Wirklichkeit lässt keine Unschuld zu.

In seinem zweiten Roman „Die Fälschung“ von 1979, Volker Schlöndorff verfilmt ihn 1981, schaltet Nicolas Born einen Gang höher. Den Hintergrund bildet diesmal der blutige Bürgerkrieg im Libanon, der von 1975 bis 1990 andauerte. Der Journalist Georg Laschen wird zusammen mit dem routiniert-abgebrühten Fotografen Hoffmann von einem Hamburger Blatt nach Beirut geschickt, um vor Ort zu berichten. Sie finden sich bald in einer Welt der – Losigkeiten wieder: Antriebslosigkeit, Orientierungslosigkeit und Skrupellosigkeit tauschen beständig ihre Plätze, innen wie außen. Georg Laschen verfolgt eher die Klärung seines Liebes- und Gefühlslebens als die eigentlichen Kampfhandlungen. Er steigert sich in seine Affäre mit einer Mitarbeiterin der deutschen Botschaft namens Ariane derart hinein, dass der Krieg zu einer alltäglichen Besorgung wird, die nicht einmal mehr seine gesamte Konzentration erfordert. So bemerkt er einmal lapidar während eines Beschusses: „Die säuselnden Geschosse bedeuteten den Tod, aber sie bedeuteten ihn nur“.

Ähnlich wie im vorangegangenen Roman schwindet die Wirklichkeit vor jeder Art von Zugriff, gerade auch die unbeschreiblich grausame Wirklichkeit eines Krieges. Der Journalist Laschen konstatiert die Nicht-Vermittelbarkeit dessen, was um ihn herum passiert: Geiselerschießungen, Häuserkampf und Granateinschläge, dazwischen Straßenhandel und Langeweile. Er weiß zwar, dass die Redaktion von ihm erwartet, in den Lesern im satten Deutschland gewisse Emotionen hervorzurufen. Doch hat er Schwierigkeiten, in sich selbst diese Erwartungs-Gefühle aufzufinden. Nicht nur seine Arbeit kommt ihm als glatte Fälschung vor, auch seine illusorischen Pläne mit Ariane (die ihn bald gegen einen jungen Palästinenser eintauscht), sein Verhalten gegenüber Frau und Kindern daheim, die Normalität des Krieges und nicht zuletzt die Propaganda aller Kriegsparteien sind Fälschungen. Es gibt nichts mehr zu sagen. Einmal wird diese Stummheit inmitten allen Lärms aufgebrochen, als Georg Laschen in einem Luftschutzkeller nach einem Volltreffer einen bereits toten Araber in rasender Panik ersticht. Zum ersten Mal scheint etwas keine Fälschung zu sein, auch wenn es sich um ein groteskes Missverständnis handelt. Georg Laschen bemerkt an sich eine Veränderung, er ist in „ausgekochter Freude darüber, nicht wieder nur empört zu sein und befremdet über die Ruchlosigkeit der Menschen, sondern endlich heimlich dazuzugehören“. Einzig einem anderen Deutschen, einem Veteranen der Legion Condor mit Namen Rudnik, der sich als Überbleibsel einer anderen Zeit in den Beiruter Hotels herumtreibt, möchte er diese Erfahrung anvertrauen. Er unterlässt es, die Wirklichkeit seines Lebens in Hamburg hat ihn bald schon wieder.

Muss Atlas glücklich sein?

Man hat Nicolas Born gern den deutschen Camus genannt. Begründet wurde dieser Vergleich mit der existentiellen Fremdheit, die beide Autoren in ihren Werken unter wechselnden Perspektiven bearbeiten. Albert Camus wählte den Mythos des Sisyphos, um sein Anliegen in einem Essay zu illustrieren. Im Fall von Nicolas Born könnte einem der Titan Atlas in den Sinn kommen, der von einer übermächtigen Macht (personifiziert in Zeus) dazu verurteilt wird, das Himmelsgewölbe zu tragen und damit zu verhindern, dass quasi der Himmel auf Erden möglich wird.

Das nüchterne Beschreiben von Ist-Zuständen unter Inkaufnahme des Unverständlichen hat Entlastungsfunktion. Gleichzeitig stellt es sich einer Ideologisierung und damit einer „Verdinglichung“ von Wirklichkeit in den Weg. Mehr noch: Allein das Beschreiben lässt in seinen Zwischenräumen eine Ahnung davon aufscheinen, wie es anders sein könnte, quasi auf der erdabgewandten Seite der Geschichte eines jeden. Dem Deskriptiven wohnt eine apophatische Macht inne, die gleichwohl nicht zu ergreifen ist. Dies gilt gleichermaßen für die Wahrheit hinter der Wirklichkeit. Es braucht daher Kraft und Mut, den Horror der Welt (der mit dem horror vacui verwandt ist), der großen wie der kleinen, zu ertragen und durchzutragen.

Die Frage nach dem Glück stellt sich nicht, viel eher die nach einer schmerzhaften Freiheit inmitten von Vergänglichkeit, von Vergeblichkeit. Zur Ahnung nach dem ganz Anderen, die sich im Beschreiben geheimnisvoll erhebt, gesellt sich ab einem bestimmten Punkt auch das Schweigen hinzu. Im Roman „Die Fälschung“ erinnert sich Laschen einen Moment lang an das Sterben seines Vaters, an dessen beharrliches Schweigen auf den letzten Metern. Ihm eröffnet sich auf einmal der „Wert der nicht gemachten Mitteilung“. Das letzte Schweigen durchkreuzt jedes, auch verbale, Verdinglichen und befreit zur reinen Erfahrung.

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