„Der Krieg muss weitergehen“

Zürich im Frühjahr 1917: Im Café Odeon sitzt ein kleiner Mann und liest Zeitung. Die Leute kennen und grüßen ihn, er ist Stammgast, geht ein und aus. Verweilt er nicht im Café, so verbringt er unzählige Stunden vor dicken Bücherstapeln in der Zentralbibliothek und verfasst eine Schrift namens „Der Imperialismus als höchste Stufe des Kapitalismus“. Sein Name: Wladimir „Lenin“ Uljanow. Seine Mission: Die Weltrevolution.

Neu-Bern im Winter 2013/2014: Der Krieg der SSR (Schweizer Sowjetrepublik) gegen die faschistischen Mächte Deutschland und Großbritannien geht in sein sechsundneuzigstes Jahr. Die 5. Armee hat die Stadt vor kurzem zurückerobert, und mittendrin wirkt der namenlose Ich-Erzähler als Parteikommissar. Der fast hundertjährige europäische Bürgerkrieg hält den Kontinent im Würgegriff: Es herrschen Mangelwirtschaft, Stromausfälle, Chaos, Pogrome und Verfall. Niemand lebt mehr, der in Friedenszeiten geboren wurde. Die Omnipräsenz der kriegerischen Agonie hat alles und jeden in den Orkus gerissen. Die einst blühende europäische Zivilisation schreitet ihrem unaufhaltsamen Untergang entgegen, und der Leser wird unverzüglich ins Labyrinth der kolossal gescheiterten Welterlösungsutopien hineingeschleudert. Die Dystopie ist Wirklichkeit geworden und lebt in jeder Zeile.

Es war die erste Nacht ohne das ferne Artilleriefeuer, es war die ganze Nacht still […]. Ich lag im grauwollenen Nachthemd auf dem Holzbett, zerdrückte die Flöhe und das andere Getier, das mir auf der Haut herumlief, und rauchte Zigaretten. Die Laken waren schmutzig, und das Kissen roch nach Menschentalg, so konnte ich nicht schlafen.

In nur wenigen Sentenzen werden genretypisch düstere und apokalyptische Bilder beschworen, die dem Leser die ernste Grundstimmung des Romans einschärfen. Dass man es hier nicht mit leichter Kost zu tun hat, wird direkt zu Beginn mehr als deutlich.

Im weiteren Verlauf entfaltet die bildhafte Phantasterei des Autors sein volles Potential, denn sie kennt keinerlei Grenzen und zaubert dem Leser ein historisches Alternativszenario nach dem anderen aufs Tableau: Die Schweiz als zivilisierende Kolonialmacht in Afrika, Koreaner in Neu-Minsk oder die für den globalen Status-Quo nicht zu unterschätzende Macht des Großaustralischen Reiches. Ferner führt der legendäre hindustanische General Lal seine berühmt-berüchtigte Sinti-Division an, welche bedauerlicherweise die Faschistenkoalition unterstützt. Strategisch-militärische Abwägungen und Feindkonstellationen zu durchdenken, gehört für den stramm auf Parteilinie gedrillten Protagonisten zur Tagesordnung.

„Es war notwendig, dass der Krieg weiterging. Er war der Sinn und Zweck unseres Lebens, dieser Krieg. Für ihn waren wir auf der Welt.“

Die nie enden wollenden Kämpfe bestimmen das Dasein des Erzählers völlig, der trotz des herrschenden Chaos äußerst pflichtbewusst agiert und seinen Dienst stets streng nach Vorschrift ableistet. Sein Weg führt zunächst ihn durch die vom Krieg zerstörten Straßen Neu-Berns. Die langjährige Besatzung der Deutschen und die Wiedereroberung hat der einstigen Metropole ihren hässlichen Stempel aufgedrückt. Vorbei an schäbigen Wellblechhütten geht es in zerschossene Offiziersbaracken, in denen dem Kommissar sein nächster Auftrag erteilt wird. Er soll den wie vom Erdboden verschluckten jüdischen Oberst Brazhinsky ausfindig machen, dessen Geschäft mit antisemitischen Parolen verunstaltet wurde. Der vermutete Aufenthaltsort: Das Réduit, die unneinnehmbare Festung in den Tiefen der Schweizer Alpen, der Stolz der Sowjetrepublik.

Weg von den grausamen Verunstaltungen des Krieges – nur das Zittern der Pferdehaut unter dem Sattel, der eisige Wind wie tausend Nadeln im Gesicht, die dampfende Wärme der Flanken, der kurze gestreckte Galopp, die Tannenzweige, die beim Vorbeigaloppieren zurückschnappten und ihre weisse Last nach oben in den hellgrauen Himmel warfen […].

Kracht gelingt über die gesamte Länge des Romas das Kunststück, mit wenigen Worten und Andeutungen ein in sich stimmiges Bild der zerfallenden und bröckelnden Zivilisation zu zeichnen. „Weniger ist mehr“ ist die Devise, ohne dass Dichte und Atmospähre auch nur im geringsten darunter zu leiden hätten. Wer aufmerksam liest, wird hier und da bellizistische Reminiszenzen wiederfinden, die an die Jüngerschen „Stahlgewitter“ erinnern, und nicht umsonst gilt Kracht als heimlicher Verehrer der Jahrhundertpersönlichkeit aus Wilflingen. Am Rande sei erwähnt: Die für deutsche Leser teils befremdlich-eigentümlichen Helvetismen verleihen der Erzählung einen subkutan schweizerischen Unterton, der sich zugleich vertraut und doch „ausländisch“ anfühlt.

Immer wieder oszilliert die Erzählung zwischen der von Dringlichkeit bestimmten Gegenwart und den Kindheitserinnerungen des Protagonisten, der aus der schweizerischen Kolonie Malawi stammt. Im Zeichen des Sozialismus und der Weltverbrüderung ausgebildet, widmet er der SSR und dem Sieg der Eidgenossen sein Leben. Im Réduit angekommen teilt ihm Oberst Brazhinsky, den er eigentlich hatte verhaften sollen, mit, dass die Gerüchte eines schnellen Sieges durch Wunderwaffen und überlegene Hochtechnologie nichts als billige Propaganda sei. Das zuvor eiserne Weltbild gerät ins Wanken, und auch die seltsam kafkaeske Untergangsstimmung im Inneren der Festung lässt ihn am großen Ganzen verzweifeln. Der Oberste Sowjet hat hier keine Handhabe mehr, das Leben im Berg hat sich völlig verselbstständigt.

Der Erzähler lässt sich gedankenversunken durch die unendlichen Tiefen der Festung treiben und staunt über die schier unfassbare Ansammlung von Reichtümern (u.a. tonnenweise Gold, griechische Ikonen, teuerste Möbel). Die Wandreliefs, die sich wie ein überdimensionierter Bandwurm durch das gesamte Stollensystem ziehen, erzählen die Geschichte der Schweiz im Stil des sozialistischen Realismus. Je weiter man jedoch hineindringt in die endlosen Katakomben, je abstrakter und wertloser werden die Darstellungen, die sich am Ende mit den simplen Höhlenmalereien in seiner afrikanischen Heimat vergleichen lassen. Durch den Verfall, den absterbenden Gestaltungswillen und den Formverlust der Kunst wird deutlich: Diese Kultur hat ihren Zenit seit langem überschritten, und aus den Zeilen spricht ein Kulturpessimismus Spenglerscher Provenienz.

Die Trümmerfelder des inneren Erlebens schichten sich im Réduit analog zum Turmbau zu Babel auf. Außer der Flucht gen Süden bleibt keine andere Möglichkeit, dem sicheren Tod im deutschen Bombenhagel auf die Berge zu entkommen. Die SSR zerbricht mitsamt ihrem Kolonialreich, einhergehend mit einer für Kracht zwangsläufigen Renaturalisierung des subsaharischen Raumes. „The White Man’s Burden“ ist auch hier ein zentrales Thema, denn der intelligente und strebsame Ich-Erzähler schafft es auf hervorragende Art und Weise, sich in seiner neuen Heimat zurechtzufinden und trotz kleinerer Scharmützel respektiert zu werden. Integration funktioniert hier allerdings eben nur beim Einzelnen, der von Kindesbeinen an durch ein strenges, ordnendes Narrativ ins Ganze eingebunden wird. Zwingt man Kulturfremden, in diesem Falle Schwarzafrikanern, die Errungenschaften der eigenen Zivilisation in ihren eigenen Ländern auf, ist die Aufgabe der Selbsterhaltung von ganz anderer Größenordnung, und auch hier ist es des Autors großer Verdienst, Selbstverständlichkeiten nur implizit anzudeuten und den Leser beim Fällen eines eigenen Urteils nicht zu bevormunden.

Auch auf persönlicher Ebene spielt das Schicksal dem Kommissar übel mit, denn dieser Krieg, für den er und seine Brüder ausgebildet werden, ist nicht der Seine. Er schickt sie als Befehlshaber sogar sehenden Auges als Kanonenfutter ins Sperrfeuer der Feinde, um den Weg für die nachziehenden ethnischen Schweizer freizumachen. Es zeigt sich: Wenn der Ernstfall ruft, blättern die humanistischen und antirassistischen Dogmen der Sowjetrepublik wie Putz von den Wänden. Die Unaufrichtigkeit wird angeprangert, denn im Gegensatz zu den Faschisten, die keinen Hehl aus ihrer Verachtung gegenüber „niederen Rassen“ machen, verstecken sich die Sowjets hinter einer Ideologie, an die sie selbst nicht ernsthaft glauben. Die Fügung zwingt ihn dazu, und er ist nur eine Schachfigur auf dem Spielbrett der universalistischen Heilsutopien des vergangenen Jahrhunderts.

Die philosophische Metaebene, die im Subtext des Werkes unentwegt vibriert, gleicht der Büchse der Pandora. In den Vordergrund drängen sich jedoch Beobachtungen, die den Autor als profunden Kritiker der Moderne ausweisen. Sein Ausweg ist allerdings nicht politischer Art, sondern zementiert sich, auch durch seine anderen Werke hinweg, als ein antimoderner Ästhetizismus der Form. So äußert er sich im Rahmen eines Interviews in mehr oder weniger ironischem Unterton zur aufgeworfenen Thematik. Die westliche Moderne trägt den Keim der Entfremdung, der Entmenschlichung und der Verdinglichung in sich. Wenn sich dieser Grundvorgang schon nicht umkehren oder zumindest aufhalten lässt, können wir wenigstens Kracht lesen und in seinen zauberhaften Abgesang auf die Welt, wie wir sie kennen, einstimmen.

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