Den Engeln nachschreiben – Prosa von Christian Lehnert

Mit »Ins Innere hinaus. Von den Engeln und Mächten« legt der Lyriker und Theologe Christian Lehnert seinen dritten Prosaband vor und setzt damit seine Erkundungen des Offenen, das durch keine festen Weltanschauungen eingefangen werden kann, fort.

Wenn man Lehnerts Prosa wirklich gerecht werden wollte, müsste man sich in ihre Bewegung, die über alle Sicherungen hinaus ins Offene führt, hineinbegeben, sie nach- und mitvollziehen. Das Ergebnis wäre aber etwas, das mit dem Genre „Rezension“ nichts mehr gemein hat. Es wäre vielleicht ein Gedicht, ein Gebet oder eine Erzählung, vielleicht aber auch nicht mehr als ein Stammeln und Lallen.

Im dritten Teil von Bachs „Weihnachtsoratorium“ taucht der Satz auf: „Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen“, und Lehnert zitiert Jakob Böhme mit den Worten „ich stamle nur wie ein Kind / das da gern wolte lernen reden.“ „Zungenlallen und ekstatischer Jubel“ stehen für Lehnert im Zentrum der religiösen Sprache, die die Grenze zur Sinnlosigkeit immer wieder überschreitet, ohne deshalb sinnlos zu werden. Gerade dann, wenn man von den Engeln sprechen will – wie Lehnert in seinem neuen Prosaband –, muss man sich stets bewusst sein, dass unser alltägliches Reden dabei an seine Grenzen stößt.

Lehnert schreibt, dass auf denjenigen, der den Engeln nachdenken und nachschreiben will, zwei Gefahren lauern: Auf der einen Seite der Irrweg des reinen Diesseitsmenschen, für den die Engel bestenfalls kulturhistorisch interessant sind, der aber nicht zugestehen möchte, dass sie mehr sind als Spiegelungen, Projektionen der menschlichen Psyche. Auf der anderen Seite der Irrweg des religiösen Ideologen, der allzu genau Bescheid zu wissen glaubt über die Engel und der sie deswegen in einer dogmatischen Ordnung festmacht, ihnen alles Überraschende, Lebendige, sein Denksystem Sprengende nimmt. Für Lehnert hingegen gilt: „Ein Engel ist eine Chiffre für die Erscheinungsweise der Transzendenz als Überschreitung.“ Und: „Wer sich Engeln mit sprachlichen Mitteln nähert, […] muß jenes unsichere Zwischenreich betreten, wo etwas benennbar es selbst ist, und zugleich ist es das nicht.“

Um sich und seine Leser den Engeln anzunähern, webt Lehnert ein dichtes Geflecht aus Theologie, Philosophie, Religionsgeschichte, erzählerischer Prosa und lyrischen Einsprengseln. Immer wieder reflektiert er über die Bedingungen der Möglichkeit der Sprache, über sich selbst hinauszugehen, das Nicht-Benennbare zu benennen. Es sind mehr als Reflexionen des Lyrikers über sein Medium. Poetische Theologie und theologische Poetologie sind miteinander verschränkt und verwoben, denn: „Poesie ist dem Glauben zu eigen wie der Atem dem Leben.“

Besonders eindrücklich sind Lehnerts Nacherzählungen biblischer Geschichten. Vor dem inneren Auge des Lesers erstehen in großer Lebendigkeit die Geschichten von Abrahams Magd Hagar, von Lot und dem Untergang Sodoms, von den Propheten Hesekiel und Elia. Aber auch aus seinem eigenen Leben weiß Lehnert von beunruhigenden Begegnungen zu erzählen. Diese erzählende Prosa ist immer wieder durchwirkt von religionshistorischen Funden und von Zitaten – manche aufleuchtend wie Blitze –, die Lehnert bei Philosophen und Theologen gefunden hat. Dabei meidet Lehnert bewusst die verfestigte Form einer wissenschaftlichen Abhandlung und hält den Leser in ständiger Bewegung über sich hinaus, eben „ins Innere hinaus“. Denn gerade jenes „Hinaus“ führt den Menschen tiefer in sein Inneres, zu ungewohnten, neuen, überraschenden, erschreckenden Gestalten seiner selbst. Vermutlich ist das der Grund dafür, dass Lehnert immer wieder die Grenzgänger aufsucht, die Irren, die Sterbenden, die Verlassenen, die Sonderlinge, die Schweigenden …

Während man Lehnerts Erkundungen liest, spürt man sein Oszillieren zwischen Sinn und Sinnlosigkeit, zwischen dem Faktischen und dem Fiktiven. Religiöser Glaube ist für Lehnert dementsprechend ein „riskante[s] Vibrieren zwischen Einsicht und Irren, zwischen Erleuchtung und Erschrecken, Ohnmacht und Kraft“. Die Religion, besonders die christliche, ist nichts, worin man sich dauerhaft einhausen könnte, außer im Sinne einer paradoxen Geborgenheit im Ungeborgenen, im Offenen.

Auch über die Bedingungen, die religiöses Sprechen und Denken in der Gegenwart vorfindet, reflektiert Lehnert ausführlich. Um uns Europäer „wuchert ein Wort- und Nachrichtendickicht, das Wesentliches oft verschüttet und alles, was geschieht, bereits deutet und manipuliert.“ Der „Raum des Unbestimmten, wie ihn bildhaft die Engel verkörperten“, und der der Raum der Religion ist, wird angesichts moderner Ambiguitätsintoleranz systematisch vernichtet. Der Liberalismus verdammt uns zu einer Freiheit, die in erster Linie Beziehungslosigkeit ist und die uns warenförmig werden lässt: „Die stückweisen Freien sind eine Spekulationsmasse im Informationskapitalismus. Sie gleichen einem Warenstrom oder einer Geldanlage. Man könnte sagen: Eine ökonomische Geistkraft, die wachsen will, eingebettet in digitale Technik, die immer mehr Lebensbereiche erfaßt und vernetzt, gestaltet die Welt um, indem sie auch das Innere des Menschen erobert.“

Schlechte Zeiten für Religion und Poesie, könnte man meinen, die nun aber im globalen Kapitalismus als „subversive Gespenster“ erneut umgehen: „Der globale Kapitalismus wird vielleicht durch nichts schärfer in Frage gestellt als durch geistliches Leben und Denken. Denn Herrschaft wird heute allerorts legitimiert und durchgesetzt im Raum einer bestimmten Vorstellung vom Menschen, die ähnlich einzementiert ist in die Mitte der Gesellschaft wie einst die Dogmen in Zeiten der Inquisition. Man könnte sie eine abgeschlossene Diesseitigkeit nennen. Liberalität und Autonomie sind darin zu letzten Werten erhöht.“ Kann man unter diesen Bedingungen noch von dem radikal Fremden sprechen, das die Engel verkörpern und auf das in Bibel und Tradition das Wort „Gott“ hinwies?

„Transzendenz, im Sinne des Hinübergehens von hier ins Fremde, ist eine Grundgegebenheit menschlichen Daseins.“ „Der Mensch steht auf der Schwelle zwischen hier und dort“. Sollten diese Thesen Lehnerts wahr sein, dann bleibt uns gar nichts anderes übrig, als in Religion und Poesie immer wieder „Schritte über uns hinaus“ (so der Titel eines Aufsatzbandes von Robert Spaemann) zu wagen. Die Engel sind dabei gute Wegweiser, zeigen sie doch wie kaum etwas Anderes die Fremdheit des Religiösen im Raum der modernen Welt an, sofern sie nicht als Kitsch und Esoterik missverstanden werden. „Ein jeder Engel ist schrecklich“, diese Worte aus Rilkes erster Duineser Elegie geben zu denken.

Es bleibt uns wohl auch nichts anderes übrig, als erneut zu versuchen, die Vokabel „Gott“ mit Sinn zu erfüllen. Dies kann jedoch nur im Widerstand gegen die kapitalistische Ökonomisierung und Verzweckung aller Lebensbereiche geschehen. Religion ist – das wird bei der Lektüre Lehnerts immer erneut deutlich – das Zwecklose, ist Bezugnahme auf Unverfügbares und Hingabe an etwas, das niemals ganz fassbar ist. Die Figur einer autobiographischen Erzählung aus Lehnerts Buch stellt die erschütternde Frage: „Warum führt uns das Tiefste immer dahin, wo es zerstörerisch wird? In der Liebe wie im Glauben?“ Lehnert führt den Leser weit fort von der modernen religiösen Harmoniesucht und der Sehnsucht nach Behausung, kirchlicher Stallwärme. Er zeigt, dass Glauben vielmehr ins Unsichere führt. Die Engel aber sind die Bewegung jenes Transzendierens, ließen sich mit Lehnert versuchsweise bestimmen als „fortwährende Unruhe über meine wahre Gestalt“.

Christian Lehnert, Ins Innere hinaus, Suhrkamp 2020, 22,00€. Hier erhältlich.

Hier geht es zu einem Gespräch mit Christian Lehnert.

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