Bewusstseinswandel gestern und heute – Ein Gang durch die Kulturgeschichte (2)

Hier geht es zum ersten Teil

Der Schritt in die Moderne

Der Übergang vom Mittelalter in die Moderne beginnt bereits im 14. Jahrhundert mit dem Nominalismus Wilhelm von Ockhams (1288–1347). Nicht mehr die Allgemeinbegriffe der aristotelischen Philosophie sind für Ockham alles bestimmende Wirklichkeit, sondern die Einzelheiten der Wahrnehmung, die erst durch den menschlichen Geist zu Allgemeinbegriffen gebündelt werden. Über die Auswirkungen dieser Philosophie schreibt der Philosophiehistoriker und Mittelalterexperte Kurt Flasch:

„Alles könnte auch ganz anders sein. Keine Kombination von Weltelementen zeigt innere Notwendigkeit […]. So können wir zusehen, wie bei Ockham die Welt aufhört, von der aristotelischen Notwendigkeit bestimmt zu sein. Aus dem göttlichen Kosmos und aus der Schöpfung als dem sichtbaren Buch Gottes wurde bei Ockham eine Ansammlung von Fakten.“

(Kampfplätze der Philosophie, S. 204)

Wir befinden uns hier am entscheidenden Punkt des Umschlags. Die Destruktion der „aristotelischen Notwendigkeit“, mit der Ockham die Moderne vorbereitet, vollzieht sich in seiner Nachfolge nicht auf einen Schlag, sondern wieder schrittweise. Nicolaus Cusanus verabschiedet die aristotelische Deutung des Wesens der Welt als einer endlichen Anzahl von Wesensformen. An deren Stelle tritt die genaue Erforschung der Einzelheiten und ihrer Konstellationen bei einem potenziell unendlichen Zuwachs an Wissen. Er spricht von einem „Wissen des Nicht-Wissens“, einer „gelehrten Unwissenheit“ (docta ignorantia).

Den Prozess der Entfaltung der cusanischen Ideen hat Heinrich Rombach in seinem philosophiegeschichtlichen Hauptwerk „Substanz – System – Struktur“ im einzelnen dargestellt. Von Cusanus führt eine Linie zu Descartes, Pascal, Leibniz und Spinoza, aber auch zu den großen Naturwissenschaftlern Kopernikus, Galilei, Kepler und Newton. Damit sind die Namen derjenigen genannt, die die europäische Moderne geprägt haben. Sie alle vollziehen die Abkehr von der Substanzialität der aristotelischen Formen, die in ihrer endlichen Anzahl für das mittelalterliche Denken die Strukturen und Hierarchien der Welt bestimmten. An die Stelle der aristotelischen Formen tritt eine unendliche Anzahl von Konstellationen, die ein je eigenes Wissen erfordern und deren Proportionen durch je eigene mathematische Formeln darstellbar sind. Der Unendlichkeit der erforschbaren Konstellationen und Proportionen entspricht ein potenziell unendlicher Forschungsprozess. Niemals ist die Totalität alles Wissens erreicht. Die Welt löst sich auf in ein Geflecht kontingenter Konstellationen.

Mit Descartes wird die Sphäre des Geistigen aus diesem Geflecht gewissermaßen ausgelagert. Seine Entgegensetzung von ausgedehnter und denkender Substanz (res extensa vs. res cogitans) gehört zu den Grundgedanken der Moderne. In der Sphäre des Denkens kann alles „klar und distinkt“ erkannt werden, während das Wissen von der Sphäre ausgedehnter Körper stets unsicher und unklar ist. Damit treten sich Subjekt und Objekt gegenüber.

Die nun aufkommende Vorstellung eines deterministischen, durch „Naturgesetze“ bestimmten Weltprozesses ist im Grunde die Kehrseite der ersehnten absoluten Freiheit des Subjekts, denn eine vollständig determinierte Welt wäre durch ein außerhalb der Welt stehendes Subjekt auch vollständig kontrollierbar – d. h. nach den Vorstellungen dieses Subjekts formbar.

Dieses Programm haben sich Naturwissenschaft und Technik in der Moderne auf die Fahnen geschrieben. Ihr Fortschritt ergibt bisher ungeahnte Möglichkeiten der Umgestaltung der Welt nach den Vorstellungen des Menschen und lässt eine vollkommene, von Leid und Unlust befreite Welt zum Greifen nah erscheinen. Das Bestehende, der Status quo gerät zunehmend unter Rechtfertigungsdruck, denn er wird von der Möglichkeit einer besseren Welt her betrachtet: Alles könnte doch viel besser, ja sogar vollkommen sein! Selbst Gott wird nun dafür „gerechtfertigt“, dass er keine andere, keine bessere Welt schuf – in der „Theodizee“ des Leibniz.

Entsprechend der technischen Umgestaltung der Naturordnungen gemäß den Vorstellungen des Menschen werden im Zuge der Revolutionen (1688, 1789, 1848) die feudalen Gesellschaftsordnungen in Frage gestellt und umgestürzt. Das Ziel all dieser Bemühungen war (und ist) der von allen äußeren Zwängen befreite, vollkommen freie, vollkommen glückliche Mensch. Im 20. Jahrhundert entfaltete dieses utopische Denken eine fatale Dynamik, beginnend mit der russischen Oktoberrevolution 1917 und fortgeführt von vielen brutalen faschistischen und kommunistischen Diktaturen. Horkheimer und Adorno sprachen angesichts dieser Entwicklungen von einer „Dialektik der Aufklärung“, einem Umschlagen des Zivilisationsprozesses in die Barbarei, einem Umschlagen des „Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit“ (Hegel) in eine vollkommene Unterwerfung und Knechtung des Menschen.

Die Gegenwart

In vielen Bereichen lässt sich auch heute noch die Dialektik erkennen, die Horkheimer und Adorno beschrieben haben: Der Fortschritt der medizinischen und biologischen Forschung, der unser Leben verlängert und viele Krankheiten zurückgedrängt hat, führt heute zu der
Herabwürdigung menschlichen Lebens zum bloßen Objekt – in pränataler Selektion und genetischem Engineering. Der technische Fortschritt, der unser Leben bequemer gemacht und uns mehr Freizeit verschafft hat, führt zur Abschaffung der Privatsphäre und zur Möglichkeit totaler Überwachung – mit dem Siegeszug des Digitalen und der totalen Vernetzung. Damit ist zugleich das Feld der beiden klassischen Dystopien Brave New World von Aldous Huxley und 1948 von George Orwell abgesteckt.

In all dem zeigen sich zunehmend die Schattenseiten des Aufklärungsprozesses. Diese Schattenseiten lenken den Blick darauf, dass es stets auch ein konservatives Element in der Kulturgeschichte gab. Die Kulturgeschichte war kein einseitiges Zunehmen der Masse des Kontingenten. Vielmehr gab es stets auch das konservative Moment des Erkennens und Anerkennens dessen, was ist, eine Skepsis gegenüber dem Neuen und dem Experiment. Für Vittorio Hösle ist in der europäischen Kulturgeschichte „ein Miteinander von kulturbewahrenden und kulturabbauenden Elementen konstitutiv“. (Moralische Reflexion und Institutionenzerfall, S. 48) Das liegt letztlich daran, dass „[t]otale Statik und permanente Revolution […] für jede Entwicklung gleichermaßen tödlich [wären]: Bloßes Bewahren ohne Innovieren führt zu Sklerotisierungen – der ursprüngliche Zustand wird gar nicht gewahrt, sondern verliert nur seine Lebendigkeit; pausenloses Neuern, ohne daß noch ein tradiertes Kriterium als gültig anerkannt wird, kann nur totale Auflösung zur Folge haben, ja muß sich selbst aufheben: Wenn alles geändert werden kann, dann auch die kritische Auffassung, daß alles geändert werden kann.“ (Ebd., S. 47) Nimmt man noch die Erkenntnis hinzu, dass Wandel ohne einen beharrenden Hintergrund gar nicht als solcher erkennbar wäre, ebensowenig wie pure Statik ohne jeden Wandel, so erkennt man die Dialektik und Komplementarität von Konservatismus und Progressismus in der Kulturgeschichte. Beide Einstellungen sind aufeinander angewiesen. Und doch scheint es, dass (jedenfalls in Europa seit der Moderne) die fortreißenden Kräfte weitaus stärker waren als die beharrenden.

Der zitierte Aufsatz Hösles enthält die These, dass Aufklärung (progressive, kritische Perioden) und Gegenaufklärung (konservative Perioden) in der Geistesgeschichte einander ablösen. Auf die Sophistik folgten Platon und Aristoteles, auf die Reformation folgte die Gegenreformation, auf die französische Revolution folgte eine Epoche der Restauration, die neuzeitliche Aufklärung vollendete sich in Hegel. Nach einer aufklärerischen Periode seit den sechziger Jahren ist nun in den westlichen Demokratien eine verstärkte Rückkehr zu konservativem Denken festzustellen.

Offen bleiben dabei jedoch für Konservative die Fragen: Wie kann man aus der Reflexion reflektierend ausbrechen – also ohne in eine prä-reflexive Unmittelbarkeit zurückzufallen? Wie kann man ein Bewusstsein für gewisse Notwendigkeiten und natürliche Grenzen der Veränderbarkeit des Wirklichen stärken, gerade indem man die gegenwärtige Gesellschaft mit ihrem progressiven Mainstream als eine bloß kontingente Option des Menschlichen erweist? Es sind Grundfragen, die sich nach Hösle alle gegenaufklärerischen Bewegungen stellen mussten und müssen.

Literatur

  • Assmann, Jan. Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus.
  • München 2003. Flasch, Kurt: Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2009.
  • Hösle, Vittorio: Moralische Reflexion und Institutionenzerfall. Zur Dialektik von Aufklärung und Gegenaufklärung. In: ders.: Praktische Philosophie in der modernen Welt. 2. Aufl. München 1995. S. 46–58.
  • Horkheimer, Max / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. 17. Aufl. Frankfurt a. M. 2008.
  • Jaspers, Karl: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. München 1949.
  • Rombach, Heinrich: Substanz – System – Struktur. Die Hauptepochen der europäischen Geistesgeschichte. 3. Aufl. Freiburg i. Br. und München 2010.
  • Scheler, Max: Die Stellung der Menschen im Kosmos. 9. Aufl. Bern 1978.
  • Teilhard de Chardin, Pierre: Der Mensch im Kosmos. 3. Aufl. München 1959.

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