Vernunft und Archaik: Der Anwalt und sein Schreiber (2)

Tatsächlich wird Bartleby als ein Mensch ohne eigene positive Setzungen gezeigt. Die Stärke und Irritationsfähigkeit bezieht er nur aus der Verneinung, der Negation alles „Normalmenschlichen“, aus der totalen Verweigerung.

Er beteiligt sich so gut wie gar nicht an der zwischenmenschlichen Kommunikation, reagiert nur, um einer minimalen Höflichkeit Genüge zu tun – und auch dies nur in Abwehr – entzieht sich damit allem Sozialen, allen Sinnsetzungen und Bedeutungen, die von Menschen geschaffen werden. Er läßt alle Menschen „auflaufen“, hat keinerlei Bindungen. Er ist einem Gespenst ähnlicher als einem Menschen. Daher auch das Unheimliche, das Abgründige, das einer solchen Totalverweigerung anhaftet.

Wieviel Zerstörungspotenzial lauert hinter vordergründiger Sanftmütigkeit?

Gilles Deleuze meint in seinem Büchlein „Bartleby oder die Formel“, daß die subversive Standardantwort „I would prefer not to“ ein Selbstläufer sei: einmal in die Welt gesetzt, würde sie alsbald jede Form von Aktivität unmöglich machen, so als könne sich der Sprecher dem Sog des Nichts nicht entziehen. Sie lähmt – und zwar ihn selbst, aber auch sein Umfeld. Die Reduktion des Lebens auf unmittelbares (Da)Sein, blanke Existenz wäre damit in der Formel schon angelegt.

Melville habe in Bartleby ein „Original“ geschaffen, das er selbst so charakterisiere: es unterliege nicht dem Einfluß seiner Umgebung, sondern erhelle alles ringsumher mit einem hellen, blassen Licht. Deleuze führt die Kreation eines solchen „Mannes ohne Eigenschaften“ auf den Gründungsakt des amerikanischen Romans zurück, der darin bestanden habe, „den Roman weit von den Wegen der Gründe abzubringen und Personen entstehen zu lassen, die sich im Nichts aufhalten, nur in der Leere überleben, ihr Geheimnis bis zum Schluß wahren und Logik und Psychologie herausfordern.“ Selbst ihre Seele sei eine riesige und schreckliche Leere, der Körper ein leeres Gehäuse. Die Formel habe eher etwas Kabbalistisches an sich denn etwas Erklärendes.

Reden als ein Paktieren mit der Sinnlosigkeit des Daseins, Schweigen als Aufgabe der Komplizenschaft mit der Wirklichkeit – so ließe sich der plötzliche Entschluß des Schreibers deuten, die ihm eigene Tätigkeit des Schreibens einzustellen. Denn nicht nur Reden, auch Schreiben heißt, zur Kommunikation beizutragen. Und Bartlebys Weg ist es, alle Fäden zu seinen Mitmenschen allmählich zu kappen. Schweigen als letzte verzweifelte Negation. Verstummen als konsequentes Handeln.

Im Gespräch mit seinem Freund Nathaniel Hawthorne, der von Melville wohl im Laufe ihres Lebens am meisten von dessen Denken erfahren hat, soll der Verfasser des „Bartleby“ gestanden haben, „er habe sich entschlossen, zu Nichts zu werden“. Dies war keineswegs Ausdruck akuter Selbstmordabsichten, sondern „nur die ironische Formulierung des romantischen Ich, das sich mit seiner Sterblichkeit abgefunden hat, doch mit letzter Geste dies als eigenen Entschluß interpretiert.“ Hat der Autor sich hier mit seiner Schreiber-Figur identifiziert? Ist Bartleby regelrecht sein „alter ego“? Aber nein, soviel dürfte nach dem bisher Gesagten klar sein: Beide Seelen, die des Schreibers und die des Anwalts, scheinen in seiner Brust rivalisiert zu haben.

Melville selbst lieferte zwar keine unmittelbare Interpretation seiner verblüffenden Erzählung, aber in sekundären Schriften und in Romanen gibt er Auskunft über seine Philosophie des Menschen und der Zivilisation. Dabei sticht eine gehörige Portion Skepsis bis Abneigung gegen alles heraus, was als „zivilisiert“ galt. So bekennt er in einem Brief an Nathanael Hawthorne im Mai 1858 seine „Abneigung gegen die ganze Menschheit – als Masse“.

Der 1851 erschienene Roman „Moby Dick“, der sein berühmtester werden sollte, weist von allen Romanen die deutlichste Parallele zu „Bartleby“ aus und ist als Interpretationshilfe geeignet: Auch hier bezieht eine Geschichte ihre Spannung aus einem engen und ambivalenten Verhältnis zweier Männer: der eine – ebenfalls ein Ich-Erzähler – ist eher unauffällig und an seine Verhältnisse angepaßt, verfügt über starke soziale Werte und Fähigkeiten. Der Roman beginnt mit den Worten: „Nennt mich Ismael.“ Er sieht sich als einen Niemand an, der nur dazu taugt, Zeugnis abzulegen, als Chronist von Geschehnissen rund um einen Mann zu fungieren, der über eine überdurchschnittliche Energie verfügt, welche allerdings ins Destruktive schlägt. Kapitän Ahab ist ein Besessener, ein Zerstörer seiner selbst und seiner Mitmenschen.

Ismael sieht das sehr früh, kann sich aber von seiner Faszination nicht befreien. Wie der namenlose Anwalt versucht er zu erkunden, wie dieser Ausnahmemensch, der nicht mit rationalen Maßstäben zu erfassen ist, „tickt“. Ein Zivilisierter steht einem Barbaren, einem Verrückten gegenüber, der sich der Sogwirkung des Abgründigen, der (Selbst-)Vernichtung nicht entziehen kann. Wie der Anwalt versucht auch Ismael, dem „ganz Anderen“ mit den Mitteln der Vernunft, der Sprache beizukommen, wo ihre Antipoden das Schweigen bevorzugen.

Das Schweigen, das Ausdruck tiefer Weisheit sein kann (und so wird es von Melville im Allgemeinen auch gewertet: „…allein in seiner Kammer, in tiefem Schweigen – so wie ich jetzt. Dieses Schweigen ist etwas Merkwürdiges. Kein Wunder, dass die alten Griechen darin den Vorhof zu den höheren Mysterien sahen.“). Aber in Melvilles beiden Geschichten trägt es eher den Charakter archaischer Sprachlosigkeit, vorzivilisatorischer Stummheit. Doch das stößt die beiden Chronisten nicht ab oder nicht nur ab: es fordert sie dazu heraus, verstehen zu wollen. Und es gibt ihnen die Gelegenheit zu gutwilligen Interpretationen. Sie suchen nach Tiefe, wo (womöglich) nichts als Leere, Stumpfheit und Kulturlosigkeit herrschen.

Das Absurde war offenkundig zur damaligen Zeit noch nicht per se verständlich und den Lesern zumutbar. Die Einsicht in das Absurde als Existenzial, welches keiner Erklärung bedarf, bricht sich erst im 20. Jahrhundert Bahn. Die Situation des Wartens auf Godot ähnelt ja der Bartlebys, nur daß Estragon und Vladimir ohne Begründung von Beckett in ihre Lage gebracht werden. Andererseits ist Bartleby im Vergleich zu Vladimir und Estragon die radikalere Figur, denn er hat von Beginn der Handlung an im Grunde nichts, worauf er hinarbeitet, was er erwartet, während die beiden Männer zumindest eine Zeitlang auf Erlösung durch einen Dritten hoffen.

Melvilles Erzählung führt uns vor Augen, daß die Abendländer offenbar schon seit langer Zeit ein Problem haben: Ihr Rationalismus im Umgang mit der Realität menschlichen Seins und Handelns stößt an Grenzen und setzt sie gleichzeitig der Verführungskraft des Irrationalen und Unkonventionellen aus. Pure Vernunft führt zu Ohnmacht. Heutige Management-Seminare und Supervisionen versuchen dem zu begegnen, indem sie soft skills, Empathie und Kommunikation predigen. Ob das angesichts des gegenwärtigen Anwachsens von Irrationalitäten und Gewaltausbrüchen helfen wird? Man darf skeptisch sein – und das heißt auch: aufgeklärt und mündig.

Literatur:

Melville, Herman: Bartleby. Erzählungen, Leipzig 1981.
Lang, H.-J.: Zum Verständnis des Werkes. In: Melville, H.: Moby Dick, Reinbek 1961.
Göske, D.(Hrsg.): Herman Melville: Ein Leben. Briefe und Tagebücher, München 2006.
Villa-Matas, E.: Bartleby & Co., Zürich 2009.
Deleuze, G.: Bartleby oder die Formel, Berlin 1994.

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