Aufbruch in das Offene

„Komm! ins Offene, Freund!“

Hölderlin: Der Gang aufs Land

Die Welt zerbricht. Überall ist Aufbruch. Das Gewohnte ist aufgebrochen. Selbst die „Bürger“, jene also, die ein Wohnungsdach birgt und vor der Witterung behütet, hört man über Obdachlosigkeit klagen – über die Obdachlosigkeit, die Georg Lukács die „metaphysische“ genannt hat. Jenen „Bürgern“ ist die Wohnung des Gewohnten zerbrochen, und hinter dem Aufbruch erblicken sie nichts als Leere. Da helfen auch jene tragbaren Höhlen, die Hüte, nicht gegen die Angst, ihnen könnte der Himmel auf den Kopf fallen. Manche versuchen, die aufgebrochene Wohnung neu aufzustellen und verstellen sich so mit Wänden die Wandlung – verschließen sich dem notwendigen Aufbruch, der hinter das Aufgebrochene führt: ins Offene.

Das Offene ist keine Leere. Auch wenn es den Gewöhnten anfangs wie eine solche anstarrt, weil das Vor-Gestellte aufgebrochen ist. Noch weniger ist es ein Gefängnis. Vom Zerbrechen befangen, verkennt der Gewöhnte die Fülle, die der Aufbruch aufschließt: dass der Einbruch des Vor-Gestellten auch ein Einbruch der Fülle aus den Schleusen des Offenen ins Gewohnte ist.

Der Einbruch der Fülle aus dem Offenen lässt nicht zu, dass wir uns einmauern. Er reißt die Mauern nieder – schmerzhaft. Aber den Wachen überschüttet er mit Licht – beseligend, beglückend.

Sicher, die Angst ist groß. Angst, als könnte die Enge des eigenen Daseins der offenen Weite nicht standhalten. Plötzlich erscheint manchen selbst der Himmel hinter den Wänden unerträglich eng, wie es Lenz aus Büchners gleichnamiger Erzählung erlebt:

„Jetzt ist es mir so eng, so eng, sehn Sie, es ist mir manchmal, als stieß’ ich mit den Händen an den Himmel.“

Es ist die Befangenheit eines Menschen, der unfähig ist, das Gewohnte zu verlassen. Diese Enge gebiert Angst. Wen die Angst überwältigt, der will zurückkehren in den Raum, wo Enge noch Weite bedeutete: gelöst im Wasser wie eine Tablette, kreisend in den Adern des Alls.

Einmal habe ich beim Einsteigen in den Zug ein schlafendes Kind gesehen, das mir diesen Zustand zu verkörpern schien. Es lag im Kinderwagen, mit leicht zur Seite geneigtem Kopf. Obwohl ich nur einen kurzen Blick auf seine Züge erhaschte, war ich sofort betroffen von der tiefen Ruhe, die das Kind ausstrahlte und die umso stärker wirkte, als wir anderen, die es umgaben, nur hastig in den Zug gelangen wollten. Es ruhte tief geborgen im Ganzen, während wir in unserer Blindheit und Taubheit nichts als hastig vorbeirauschende Teile erblickten.

Viele verwechseln diese Geborgenheit mit dem Offenen. Die Angst vor dem Offenen, das Weite ist, wird zur Flucht in das „Offene“, das zwar eng, aber bergend ist. Ich denke hier vor allem an Rainer Maria Rilke, der in der achten Duineser Elegie den Schoß, den „Weltinnenraum“, das „Offene“ nannte. Das ist eine „Flucht vor der Freiheit“ (Erich Fromm) in die Regression.

Der bergende Schoß ist vielgestaltig. Es kann der Schoß einer Nation, einer religiösen Gemeinde, einer Ideologie sein. Für den Mann kann es der Schoß einer Frau sein, für die Frau die schützenden Arme des Mannes. Es können Rauschzustände aller Art sein, verursacht durch Drogen. Manche wollen, scheint es, den Herzschlag der Mutter wieder fühlen, wenn sie sich in Dunkelheit, durchzuckt von grellem Licht, zu dröhnender Musik bewegen.

Kinder bauen sich gerne Höhlen aus Decken und Kissen. Dann spüren sie Geborgenheit und schöpfen Mut zu immer erneutem Aufbruch. So kehren auch die Älteren Nacht für Nacht ein wenig in den Schoß zurück. Wir sollten es bei dieser allnächtlichen Rückkehr belassen, die uns neuen Mut gibt, und nicht dem allgegenwärtigen Drang in Richtung des ewig bergenden Schoßes nachgeben. Denn dieser Drang ist angstgetrieben.

Notwendig ist der Aufbruch. Wir sind jetzt so obdachlos, so durch nichts getragen und von nichts verstellt, dass wir „nur eine Rose als Stütze“ haben. So hat Hilde Domin ihren ersten Gedichtband genannt. Die stützende Rose ist nichts als die Sicherheit, die wir in uns erwerben konnten. Der freie Himmel mag dem einen Angst machen – demjenigen, den die Rose trägt, ist er offene Weite voller Fülle. Manche reisen oder wandern, um diese Weite zu erfahren. So wenden sie ihr Schutzlossein ins Offene, wie es Rilke in dem Gedicht „Wie die Natur die Wesen überlässt“ forderte. Dieser Aufbruch in das Offene ist notwendig.

Aber es gibt auch eine negative Seite der offenen Weite: die Gefahr der Anarchie. Diese Gefahr lauert auf jeden, der die offene Weite erfährt. Wenn Offenheit mit Formlosigkeit, wenn Gelassenheit mit Lässigkeit verwechselt wird, dann bricht die Fülle, die den Einzelnen beseligen und beglücken könnte, als eine Lawine der Zerstörung auf ihn ein. Dies ist ein anderer Einbruch, der dem Aufbruch folgen könnte: Einbruch des Formlosen, Maßlosen, ins Geformte, Maßvolle, dieses nicht nur umbildend oder störend, sondern zerstörend, in einen Sog der Vernichtung reißend. Daran muss gedacht werden: dass die Fülle aus den Schleusen des Offenen auch zur Gefahr werden kann, wenn sie nicht auf Maß und Form trifft.

Verlockende Fluchtwege, Verbleib im Gewohnten, Gefahr der Formlosigkeit auf der einen Seite, lebensfördernde Chancen einer ungeahnten Fülle auf der anderen: Beides tritt uns mit dem Aufbruch ins Offene entgegen. Und es liegt an uns, wie wir diesen Möglichkeiten entgegentreten, welche Möglichkeiten wir erwählen, und welche wir – uns erwählen lassen.

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