Auf der Suche nach dem geheimen Europa

Spiritualität und Mystik sind blinde Flecken in der Öffentlichkeit. Das mag zum einen daran liegen, daß eine zu starke religiöse Innerlichkeit und auch der Begriff Spiritualität sehr schnell ins Esoterische abgleitet oder verdrängt wird. Gleichzeitig erweckt für viele allein schon das zu große Interesse an Mystik eine Heidenangst vor den unausrottbaren Geistern des Nationalsozialismus.

Neben der modernistischen Ablehnung alles Irrationalen trägt das dazu bei, daß es nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Teilen Europas kaum eine Auseinandersetzung mit den vielen spirituellen Wurzeln und mystischen Traditionen statt. Bereits Anfang der 1990er Jahre mahnte der damalige Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, es müsse gelingen, „Europa eine Seele zu geben, es mit einer Spiritualität und tieferen Bedeutung zu versehen“.

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Der Suche nach den tief reichenden oft aber abgeschnittenen mystischen Wurzeln verschiedener europäischer Regionen hat sich der Dokumentarfilmer Rüdiger Sünner verschrieben. In seinen Filmen, die bei den Fernsehanstalten wenig Anklang finden, hat er ganz eigene Erzählformen von wunderbarer Langsamkeit entwickelt, die dem Zuschauer Frage- und Erfahrungshorizonte eröffnen ohne eine Bewertung vorzugeben.

Sünner sieht sich selbst als Fragenden, der keine Antworten vorgeben möchte, allerdings die europäischen Traditions- und Kulturlinien des Christentums und der Aufklärung um die dritte Linie der Spiritualität ergänzen möchte. Sein Ziel ist es, Dinge vor dem Vergessen zu bewahren. Geleitet wird er dabei von einer Mischung aus Faszination und Skepsis für seinen Gegenstand, die ihm einen respektvollen und vorsichtigen Umgang mit den Thematiken ermöglichen und gleichzeitig nicht kritiklos an seine Gegenstände herangehen lassen.

In seinem neuen Buch „Geheimes Europa. Reisen zu einem verborgenen spirituellen Erbe“ reflektiert Sünner über mehr als 20 Jahre Arbeit als Dokumentarfilmer. Ausgehend von seinem Schlüsselfilm „Schwarze Sonne“, in dem er sich auf eine faszinierende Reise zu den mythologischen Hintergründen des Nationalsozialismus begibt, verarbeitet er in den Rückblicken auf seine Werke auch viele Informationen seiner Recherchen, die keinen Eingang in die Filme gefunden haben. Das Buch läßt sich daher auch gut lesen, wenn man die beschriebenen Filme nicht kennt. Die kurzen Kapitel dienen auch hier als Anregung, sich weiter mit den Themen auseinanderzusetzen.

Der besondere Reiz des Buches als Ergänzung zu den Filmen liegt darin, daß es dem Leser auch Einblick in die Arbeit des Dokumentarfilmers liefert, die Entstehungsgeschichte der Filme darlegt und viele ergänzende Informationen zu den Protagonisten der Filme bietet. Wenn Sünner sich eines Themas annimmt, dann tut er das nicht in der Absicht, sämtliche Erkenntnisse über den Haufen zu werfen oder völlig neue Perspektiven zu liefern. Sein Anspruch ist vielmehr, das bestehende Bild zu ergänzen und zu erweitern um Eindrücke und Facetten, die häufig in den Hintergrund treten.

Sünner ist bei seiner Arbeit auf sich allein angewiesen. Die Mittel der offiziellen Kino- oder Fernsehförderungen bleiben ihm verwehrt. Seine Filme scheinen nicht einmal in das Nachtprogramm der öffentlich-rechtlichen zu passen. Der finanzielle Nachteil ist für Sünners Filme ein eindeutiger Vorteil. Sie verweigern sich konsequent der Verwertungslogik und vermeiden daher auch die Gefahr zu starker Vereinfachung.

Bei aller Suche nach den verborgenen Linien im spirituellen Denken Europas ist die Beschäftigung mit der europäischen Identität nicht das Ziel von Rüdiger Sünner. In Anlehnung an Ulrike Guérot möchte er den Begriff „kulturelle Identität“ lieber durch „kulturelle Ressourcen“ ersetzen. Auch sieht er seine Arbeit als Gegenpol zu den stärker werdenden rechtspopulistischen Bewegungen Europas und deren vermeintliche Eindimensionalität. Die Filme und Texte Sünners lassen eigentlich auf ein differenzierteres Urteilsvermögen schließen. Vielleicht hat er eines Tages die Gelegenheit, festzustellen, daß viele der vorschnell als Rechtspopulisten bezeichneten, mit ihm das Ziel teilen, die Vielschichtigkeit des europäischen Kulturraumes zu bewahren und an verborgene Traditionsquellen anzuschließen.

Den jüngsten Titel Sünners gibt es beim EUROPAVERLAG.

Bücher von Rüdiger Sünner:

Geheimes Europa. Reisen zu einem verborgenen spirituellen Erbe. Europa Verlag 2017. 383 Seiten. 24,90 €.

Schwarze Sonne. Entfesselung und Missbrauch der Mythen in Nationalsozialismus und rechter Esoterik. Herder Spektrum 1999. 256 Seiten. 9,90 €.

Totenschiff und Sternenschloss. Reisen zu mythischen Orten Europas. Drachen Verlag 2004. 156 Seiten. 16,50 €.

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